Bauten

52 — Therme Vals, Vals

  • Ein Bad jenseits gängiger Vorbilder: Das von geheimnisvoller Lichtmagie geprägte Felsenbad wartet bei aller archaischen Kargheit mit einer Vielfalt suggestiver Räume auf (© Ralph Feiner, Malans).

  • Das Gebäude als Ganzes wirkt wie ein grosser, poröser Stein. Talseits, wo es aus der Hangkante ragt, wird die angeschnittene Kavernenstruktur zur Fassade (© Ralph Feiner, Malans).

  • Eine Landschaft aus Felsenwänden: Die Streifen aus dem vor Ort gebrochenen Quarzitstein umhüllen die massigen Blöcke wie eine «lebendige» Haut (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Thermalbad Adresse Poststrasse 560E, 7132 Vals Bauherrschaft Hotel und Thermalbad Vals AG Planer Atelier Peter Zumthor Bauzeit 1990–1996

Schon während des Baus war sie berühmt, zwei Jahre nach ihrer Eröffnung wurde sie – in Anerkennung ihres epochalen Rangs – unter Denkmalschutz gestellt: Peter Zumthors (*1943) Felsentherme von Vals, die das beschauliche Bergdorf zuhinterst im abgelegenen Valsertal auf die Landkarte der Weltarchitektur setzte. Kein buntes Vergnügungsbad, sondern ein sublimer Tempel der Badekultur, der ganz auf das sinnliche Erleben von Wasser, Stein, Licht und Schatten setzt und die Besuchenden in kontemplativer Stimmung zu sich selbst finden lässt.

Leitgedanke des Entwurfs war das «Aushöhlen» aus dem Felsen, in dem auch die warme Thermalquelle entspringt. Eingebettet zwischen hohen Tannen und umgeben von Hotel und Apartmenthäusern der Sechzigerjahre ist Zumthors Therme als eigenständiges Bauwerk in den Hang gebaut. Man erreicht sie über einen dunklen Stollen vom nebenstehenden, älteren Hotel her – der geschickt inszenierte Zugang untermauert den Eindruck, ins Erdinnere vorzudringen. Was einen dort erwartet, ist kein konventionelles Hallenbad, sondern eine Art geometrisches Höhlensystem, in dem der Innenraum zwischen einer Vielzahl unterschiedlich grosser, in wohl abgewogener rechtwinkliger Ordnung zueinander stehender Steinblöcke mäandriert. Die 5 m hohen Quader sind aus schmalen, sich im stets gleichen Takt wiederholenden Streifen aus dem vor Ort gebrochenen Gneis aufgeschichtet, was ihren monolithischen Anschein verstärkt. Ihrerseits ausgehöhlt, halten sie besondere Erfahrungen mit dem Wasser bereit. Die körperhaften Pfeiler tragen schwere, überhängende Platten aus Beton: einzelne Dachstücke, durch schmale Zwischenräume voneinander getrennt; so von einem Lichtkranz umgeben, scheinen sie im Leeren zu schweben und verstärken die mystische Atmosphäre des Raums. Talseitig dringt der Aussenraum durch grosse Öffnungen in das Gebäude ein; wie ein monumentales Gemälde lässt sich hier die gegenüberliegende Berglandschaft betrachten. Die suggestive Hell-Dunkel-Regie des Architekten zwingt zu einer behutsam-tastenden Aneignung des Baus; einer Verlangsamung der Bewegung, welche die Wahrnehmung schärft.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Peter Zumthor Häuser 1979–1997, Baden 1998, S. 143–199; Peter Zumthor: Therme Vals, mit Texten von Peter Zumthor und Sigrid Hauser, Zürich 2007; Gute Bauten in Graubünden 2001, hrsg. vom Bündner Heimatschutz und der Bündner Vereinigung für Raumplanung (Sonderheft BVR-Informationen 2/01), Chur 2001; Christof Kübler: Therme Vals: zurück in die Steinzeit?, in: Kunst + Architektur in der Schweiz 49 (1998), Heft 1: Thermen, S. 53–59; Benedikt Loderer: Körper, Raum und Licht, in: Hochparterre 10 (1997), Heft 1–2, S. 18–23.

51 — Haus Flury-Zarn, Domat/Ems

  • Ein Wohnhaus als Pavillon, der über dem Terrain zu schweben scheint. Im Zusammenspiel mit dem Calandamassiv im Hintergrund kommt der rechteckigen Scheibe umso grössere Wirkung zu (© Ralph Feiner, Malans).

  • Zweiseitig fast vollflächig verglast, schafft das grosse Wohnzimmer einen starken Aussenbezug (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick in den breiten Flur, der alle Räume des eingeschossigen Hauses erschliesst. Die Garderobenablagen rechts verweisen auf die heutige Nutzung des Baus als Kinderhort (© Ralph Feiner, Malans).

  • Aufnahme 1965 (Archiv Aita Flury).

Bauaufgabe Wohnbau Adresse Plazza Staziun 21, 7013 Domat/Ems Bauherrschaft Privat Planer Alfred Theus Bauzeit 1964/65

Zusammen mit Robert Obrist (1937–2018) hatte Alfred Theus (1930–2003) 1966–1968 das inzwischen abgebrochene Hallenbad in St. Moritz erbaut, einen kapitalen Sichtbetonbau, der sich unverhohlen auf Le Corbusier (1887–1965) bezog. Kurz vorher half er in Domat/Ems der Familie des Postverwalters Jakob Flury-Zarn, sich ihren ganz persönlichen «Traum vom Einfamilienhaus» zu erfüllen. Dieses zeigt eine andere Spielart der Nachkriegsmoderne als der St. Moritzer Tourismusbau – ein Unterschied, der neben der gestalterischen Flexibilität des Architekten wohl auch die Verschiedenheit von öffentlicher und privater Bauaufgabe reflektiert.

Im hinteren Teil eines grossen Grundstücks platzierte Theus eine im Kontext der umliegenden Kernzonenbebauung ganz fremdartig anmutende Pavillonarchitektur, umgeben von einem parkartigen Garten, der eine Distanz zur Nachbarschaft und besonders zum angrenzenden Bahnhofsareal schafft. Der abstrakt-strenge, ja puristische Wohnbau lässt vage Bezüge zu amerikanischen Vorbildern erkennen, etwa zu Mies von der Rohes (1886–1969) berühmtem Farnsworth House (1950/51). Es ist ein langgezogenes, flach gedecktes Gebäude von nur einem Geschoss, welches durch das zurückversetzte Tiefparterre vom Erdboden abgehoben und über diesem zu schweben scheint. Das in der Hauptsache wirkende Element ist die Horizontale, die im Zusammenspiel mit der vertikal aufsteigenden Bergflanke des Calanda Spannung erzeugt. Zwei Betonplatten rahmen den Baukörper oben und unten ein, dazwischen sind Fenster mit hölzernen Brüstungen und Mauerscheiben aus Backstein, sichtbar belassen aus Gründen der damals beliebten «Materialechtheit». Im Innern wird das Haus durch die klare Aufteilung in konventionelle Raumzellen geprägt. Raumhohe Türen und bis zur Decke reichende Fenster setzen diese zueinander in Beziehung und etablieren den Eindruck einer lichtdurchfluteten Grosszügigkeit. Der darin aufscheinende Wunsch nach «plan libre»-Qualitäten kulminiert in einer offenen Wohn- und Essraumsituation.

2015 wurde das bauzeitlich erhaltene Wohnhaus von Aita Flury (*1969) mit minimen Eingriffen zur Kinderkrippe umfunktioniert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur https://www.aitaflury.ch/kita-domat-ems/

50 — Klosterschule, Disentis/Mustér

  • Die Gebäude sind innen und aussen als Betonbauten konzipiert und bis ins Detail als solche erkennbar. Im Bild der Schultrakt hinter dem Kloster; die wesentlichen Elemente der räumlichen Disposition sind auch im Äusseren sichtbar gemacht: die Fensterbänder markieren die Schulzimmer, die geschlossenen Elemente das Treppenhaus und die Sanitärzellen (© Ralph Feiner, Malans).

  • «Kunst am Bau» verstanden nicht als blosse Dekoration, sondern als «integraler Bestandteil guter und menschenfreundlicher Architektur»: Die in Beton gegossenen Zeichenformen und die subtil abgestimmten Farbakzente in den Deckenfeldern stammen von Armin Hofmann (© Ralph Feiner, Malans).

  • Luftbild 1990. Das in zwei Teile gegliederte Schulhaus steht als moderner Kontrapunkt neben und hinter der barocken Klosteranlage. Der Hallentrakt schräg oberhalb des Konvents umfasst die Turnhalle, das (ehemalige) Hallenbad und Musikräume, das Gebäude hinter dem Kloster nimmt die Klassenzimmer auf (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Swissair Photo).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Via Sogn Sigisbert 1 und 5, 7180 Disentis/Mustér Bauherrschaft Benediktinerkloster Disentis Planer Hermann Bauer, Hans Peter Baur Bauzeit 1969–1973

«Den Geist unserer Zeit mit dem bestehenden Barock in Einklang bringen» – das war die Devise, die den Neubau der Klosterschule Disentis Ende der Sechzigerjahre leitete. Jahrhundertelang war die von den Mönchen geführte Schule im Konventsgebäude integriert gewesen, nun galt es, ihr ein eigenes, neues Haus zu geben. Die zitierte Losung liess eine anbiedernde Anpassung an den Bestand nicht zu, forderte gleichzeitig aber Respekt vor dem Vorhandenen ein. Die Weltoffenheit der Benediktiner bescherte der Surselva neben dem gleichzeitig errichteten Dominikanerinnenkloster in Ilanz ein zweites bedeutendes Beispiel der Nachkriegsarchitektur, das in einem sakralen Kontext steht (Objekt 05). Im Vergleich zu Ilanz kam in Disentis zur exponierten Hanglage des Bauplatzes dessen unmittelbare Nähe zum barocken Stift erschwerend hinzu. In einer Zeit, in der die zeitgenössische Architektur ein wenig ehrfürchtiges Verhältnis zur Vergangenheit pflegte, bot dies den Architekten eine besondere Herausforderung.

Den Wettbewerb hatten der renommierte Basler Kirchen- und Schulhausbauer Hermann Baur (1894–1980) und dessen Sohn Hans Peter Baur (1922–2017) für sich entschieden. In zwei über Eck gestellte Hauptkörper gegliedert, tritt der von ihnen entworfene Gebäudekomplex durch seine dezente Plastizität hervor. Mit den flachen Dächern, den Bandfenstern und dem Sichtbeton erscheint er als Kontrast zur mächtigen Klosteranlage – und findet doch eine harmonische Balance. Räumlich abgesetzt bleibt er durch Galerien mit ihr verbunden. Das Schulhaus zeigt sich einerseits klassisch-modern, lässt aber auch deutlich den Einfluss Le Corbusiers (1887–1965) erkennen, bei dem Hans Peter Baur einst gearbeitet hatte. Dieser manifestiert sich in den Betonlamellen und den mächtigen Rundstützen sowie im Motiv der grosszügig gerundeten Kanten in den Erschliessungsbereichen – und in der Haptik des Betons, der durch die (zeittypische) Verwendung von ungeschliffenen Schalungsbrettern die Maserung des Holzes annimmt und so einen betont herben Aspekt erhält.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bruno Maurer: Bestandesbeschrieb Hans Peter Baur, in: Website des gta Archivs / ETH Zürich, Januar 2019, https://archiv.gta.arch.ethz.ch/nachlaesse-vorlaesse/hans-peter-baur-19222017; Daniel Schönbächler: Die Benediktinerabtei Disentis (Schweizerische Kunstführer GSK), Bern 1992, S. 11 und 37; Bernhard Bürke (Hrsg.): Neubau Klosterschule Disentis. Perspektiven einer Baugeschichte, [Disentis, 1973].

49 — Bündner Frauenschule, Chur

  • Ein gepflästerter Weg führt der «Mauer» des Wohnheims entlang zum Schultrakt hinunter. Er folgt der Hangtopografie und nimmt die Linienführung der ursprünglichen Rüfe auf (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der viergeschossige Klassentrakt erhielt 1994 von Robert Obrist selbst eine Erweiterung in Form eines erhöhten Kopfteils von neun Achsen, der sich in Kubus und Formensprache dem ursprünglichen Gesamtensemble einpasst und nur im Innern die Zeitdifferenz erkennen lässt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Südfassade des Wohntraktes (© Ralph Feiner, Malans).

  • Korridor im Schulhaustrakt: Auch im Innern setzte Robert Obrist auf «Materialechtheit» (© Ralph Feiner, Malans).

  • Gekonnte städtebauliche Setzung als grosse Geste in der «Landschaft». Alle Flachdächer liegen auf der gleichen Höhe und beruhigen so die bewegte Hangsituation (in: Werk, Bauen + Wohnen 71 (1984) Heft 3, S. 9).

  • Der Klassentrakt vor seiner Erweiterung (in: Churer Stadtgeschichte, Bd. 2, Chur 1993, S. 267).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Scalärastrasse 13–17, 7000 Chur Bauherrschaft Kanton Graubünden Planer Robert Obrist Bauzeit 1981–1983, Erweiterung 1994

Anfang der Achtzigerjahre erbaut, ist die Bündner Frauenschule ein Nachzügler der grossen Schulhausbauten, die in den Sechzigerjahren in der Kantonshauptstadt entstanden sind (Bündner Kantonsschule, Objekt 3 und Objekt 40). Anders als diese liegt sie nicht im nahen Umkreis der Churer Altstadt, sondern peripher am sanft geneigten Westhang, dort, wo die Stadt aufs Land drängt und keine bauliche Gesamtstruktur aufweist. «Rüfen» bildeten hier ursprünglich die prägende Landschaftsformation, später umgrenzten hohe Flurmauern das landwirtschaftlich genutzte Land. An diesen topografischen Besonderheiten hat sich Robert Obrist (1937–2018) orientiert, als er den umfangreichen Schulkomplex ins abfallende Gelände einzupassen suchte.

Fächerförmig breitet sich die in zwei differenziert gegliederte Hauptvolumen aufgeteilte Anlage zum Tal hin aus, in der Mitte «gehalten» von einem gepflästerten Weg. An dieser Gasse liegen die grossen Baukuben wie nach vorne geschobenes und seitlich abgelagertes Geschiebe: die linear angeordneten, durch Gänge miteinander verbundenen und gleichsam aus dem Hang herauswachsenden Flachdachbauten des Wohnheims, im spitzen Winkel dazu der mächtige Riegel des viergeschossigen Schultraktes mit bergseits angeschlossener Aula und talseitig vorgelagerter Turnhalle. Die dem Hangverlauf folgende Erschliessung endet dort, wo sich die beiden Bauteile begegnen und an einem kleinen Platz Eingangssituationen ausbilden, welche die scharf geschnittene Geometrie durchbrechen. Gasse und Platzerweiterung geben dem Gebäudeensemble die Anmutung eines kleinen, autarken und urbanen Ortes.

Die aus einem Wettbewerbserfolg von 1977 resultierende Frauenschule, die heute Pädagogische Hochschule heisst, ist ein Werk des Übergangs: Ihre Kubatur, die «ehrliche» Zurschaustellung der Konstruktion und der schalungsrohe Sichtbeton repräsentieren die Nachkriegsmoderne, wohingegen die rationalistische Formensprache, die Logik der einzelnen Teile und der Einsatz städtischer Merkmale wie Gasse und Platz den Einfluss Aldo Rossis (1931–1997) verraten.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Hubertus Adam: Erweiterung der PH Graubünden, in: Bauwelt (2011), Heft 8: Die Siebziger ergänzen, S. 22–27; Hannes Ineichen (Hrsg.): Robert Obrist. Bauten, Projekte und Planungen 1962–2002 (Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 6), Blauen 2002, S. 52–65; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1: Nordost- und Zentralschweiz, Zürich 1992, Nr. 308, S.76; U.J. [Ulrike Jehle]: Eine Schule als «ein Stücklein Stadt», in: Werk, Bauen + Wohnen 71 (1984) Heft 3: Architektur der Stadtwohnung, S. 9–12.

48 — Solarhaus I, Domat/Ems

  • Die beiden Nullenergiehäuser sind Unikate für eine bestimmte Strategie, solare Gewinne zu optimieren. Die neue Energietechnik ist hier nicht aufgesetzt sondern bestimmt Form und Ausdruck des Gebäudes (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der Rohbau aus Sichtbeton dient als Massenspeicher; wie ein riesiger Kachelofen geben die Betonwände im Winter die gespeicherte Energie als angenehme Strahlungswärme in die Innenräume ab (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die lichtdurchlässige Isolation (TWD) prägt die Stimmung im Innern des Gebäudes, ohne dass der Eindruck entsteht, in einer Maschine zu wohnen (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Wohnbau Adresse Via Calundis 8/8A, 7013 Domat/Ems Bauherrschaft Privat Planer Dietrich Schwarz Bauzeit 1995/96

Nach dem Erdölschock von 1973, der die Wachstumseuphorie der Nachkriegszeit empfindlich dämpft, kommt die ökologische Bewegung in Fahrt – und mit ihr der Ruf nach einer umweltbewussteren Architektur. In der Entwicklung energieeffizienter Bauweisen nimmt das solare Bauen eine zentrale Stellung ein. Das Experimentieren mit dem Einsatz erneuerbarer Energien als Alternative zu den klimaschädigenden fossilen Brennstoffen selbst bei so wenig nachhaltigen Bauaufgaben wie dem Einfamilienhaus erscheint nicht ohne Widerspruch. Vielleicht lässt er sich auflösen mit dem Argument, dass hier im Kleinen erprobt wird, was im Grossen Wirkung zeigen soll.

Auf dem Gebiet der Solararchitektur hat sich Dietrich Schwarz (*1964) einen Namen gemacht – weil er das Ausreizen der jeweils neusten Technologie mit einem gestalterischen Anspruch kombinierte. 1995/96 entstand in Domat/Ems sein Erstlingswerk, das Solarhaus I, das tatsächlich aus zwei Nullenergiehäusern besteht. Im Detail voneinander abweichend sind die beiden Wohngebäude identisch hinsichtlich ihres konstruktiv-technischen Prinzips. Parallel hintereinander gestaffelt erheben sie sich über längsrechteckigem Grundriss als hohe Baukörper von schlanker Eleganz. Mit ihren Satteldächern knüpfen sie an traditionelle Vorstellungen von Wohnbauten an und vermitteln doch ein ganz neues Bild. Alles ist hier durch die Energiegewinnung bestimmt: die Schräge des Dachs und seine Asymmetrie, die der optimalen Ausrichtung der südseitig angebrachten Solarpanels dient; und die Gebäudehülle, die aus einer transparenten Wärmedämmung (TWD) besteht, welche die Bauten als Glashäuser erscheinen lässt. Im Osten, Süden und Westen wandeln die lichtdurchlässigen Kollektoren das direkte Sonnenlicht in Wärme um; diese wird von der innenliegenden Betonwand gespeichert und als sinnliche Strahlungswärme in den Innenraum abgegeben. Im Norden wurde wegen des geringen Energieeintrags auf den Speicher verzichtet; hier wandelt sich die Fassade zur transluziden Lichtwand, die tagsüber irisierend schimmert, nachts hingegen wie eine magische Laterne nach aussen scheint.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur https://www.schwarz-architekten.com/project/solarhaus-i/; Köbi Gantenbein, Jann Lienhart, Cordula Seger: Bauen in Graubünden. Ein Führer zur Gegenwartsarchitektur, Zürich 1999 (2., erw. Aufl.), S. 60/61.

47 — Wohnhaus für Betagte, Chur

  • Perfektes Zusammenspiel der Materialien: ein Dreiklang von Tuffsteinmauerwerk, Sichtbeton und Lärchenholz (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Talseite ist ganz von der Horizontale geprägt, die einzelnen Wohneinheiten sind deutlich ablesbar. Durch ein Erkerfenster im Wohnraum lässt sich die Aussicht geniessen, die zur Abendsonne gerichtete Loggia bietet einen wind- und wettergeschützten Aussenraum (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Eingangsfassade wird von grossen Quadratfenstern im Wechsel mit breiten Pilastern aus geschliffenem Tuff rhythmisiert; die Proportionen erinnern an einen klassischen Portikus (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Eingangsveranda als ein zwischen innen und aussen vermittelnder Vorbereich zur eigenen Wohnung, der sich individuell möblieren lässt und zum halböffentlichen Zusammensein einlädt (©  Urs Siegenthaler, in: Hochparterre 6 (1993), Heft 12 (Beilage), S. 5.

Bauaufgabe Alterssiedlung Adresse Cadonaustrasse 69b, 7000 Chur Bauherrschaft Stiftung Evangelische Alterssiedlung Masans Planer Atelier Peter Zumthor Bauzeit 1989–1993

Beim Bau von Alterswohnungen sind staatliche Subventionen an verschiedene Auflagen geknüpft – baukulturelle Aspekte gehören nicht dazu. Dies, obwohl hier für Menschen in der psychologisch heiklen Phase ihres letzten Lebensabschnitts geplant wird. Früher waren sie oft als wenig anmutige Altenversorgungsanstalten konzipiert, voller deprimierender Tristesse. Hierzu hat Peter Zumthor (*1943) einen Gegenpol gesetzt: mit einem Gebäude von einer Wohnlichkeit, die es zum Privileg macht, hier leben zu dürfen und den Gedanken des Abgeschobenseins erst gar nicht aufkommen lässt.

Das Wohnhaus für Betagte ist Teil eines grossen Altersheim-Komplexes am Rande der Stadt, dessen etappenweise Entstehung sich in einer grossen baulichen Heterogenität widerspiegelt. Die Aufgabe war, ein Gebäude mit kleinen Wohnungen zu kreieren, wo alte Leute in betreuter Umgebung ihr Leben eigenständig gestalten können. Der Bauplatz: ein leicht abfallender Westhang. Zumthor reagierte mit einer langen, prägnanten Zeile, die den Höhenlinien folgt und die 21 Wohneinheiten auf zwei Geschossen in regelmässiger Reihung addiert. Gekonnt vermittelt er zwischen den grossen Volumen der Alterssiedlung im Hintergrund und den kleinmasstäblichen Einfamilienhäusern vorn – eine städtebaulich präzise Setzung, die genau zum Programm des gemeinsamen und doch autonomen Wohnens passt. Bergseits liegt der klassisch gegliederte Baukörper auf dem Boden auf, zum Tal hin kragt er um Balkontiefe aus und hebt sich deutlich vom Gelände ab; der Blick in die Landschaft bleibt frei, ein Obstgarten bildet den räumlichen Puffer zur Nachbarschaft. Im Innern überrascht der schlichte Bau mit einer raffiniert komponierten Abfolge von offenen und geschlossenen Räumen, aus Tuffstein, Lärchenholz und Sichtbeton zusammengefügt in höchster handwerklicher Perfektion. Der Clou: Eine Eingangsveranda im Sinne einer «internen Strasse», individuell möbliert nutzbar als gemeinschaftlicher Ort. So entstand ein atmosphärisch vielfältiges Bauwerk von grosser Sinnlichkeit, formal dezent, vornehm und elegant, das Geborgenheit schafft und nicht Distanz.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Martin Tschanz. Ein Meisterwerk in bestem Alter. Das Wohnhaus für alte Menschen in Chur-Masans von Peter Zumthor, erbaut 1989–1993, in: Bündner Monatsblatt (2017), Heft 3, S. 328–337; Thomas Durisch (Hrsg.): Peter Zumthor. Bauten und Projekte, 5 Bde., Zürich 2014, Bd. 1, S. 109–129; Köbi Gantenbein, Ariana Pradal, Jürg Ragettli, Ralph Feiner: Bauen in Graubünden. Ein Führer zur zeitgenössischen Architektur, Zürich 2006 (3., erw. Aufl.), S. 42/43; [Reichlin Bruno]: Wohnhaus für Betagte, Chur, in: Christoph Mayr Fingerle (Hrsg.), Neues Bauen in den Alpen. Architekturpreis 1995, Basel/Boston/Berlin 1996, S. 70–75; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994, hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz (Informationen 1/95, Sonderheft), Chur 1995; Ernst Hubeli. Zu schön um wahr zu sein! Ein Wohnhaus für alte Menschen bei Chur, in: Werk, Bauen + Wohnen 80 (1993), Heft 11, S. 6–5; Benedikt Loderer: Nicht alt, sondern erwachsen, in: Die Besten 93, Beilage zu Hochparterre 6 (1993), Heft 12, S. 5–7.

46 — Überdachung Postautodeck, Chur

  • Das markante Stahlgerippe mit seiner gläsernen Haut gibt der Bündner Hauptstadt einen internationalen Touch. Die verwendeten Materialien verleihen dem kühnen Ingenieurbauwerk die zeittypische Cleanness und betonen dessen technischen Aspekt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Als konvexer Körper schafft die Halle eine Monumentalität und Zeichenhaftigkeit, die den Brennpunkt des öffentlichen Verkehrs zum neuen Wahrzeichen erhebt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Am oberen Ende rahmen zwei mächtige Kopfbauten den Halleneingang und bilden von Westen her ein «Tor zur Stadt». Die beiden Gebäude sind die einzig realisierten Elemente der ursprünglich vorgesehenen Randbebauung, welche das überwölbte Gleisfeld auf einer Länge von 300 m hätte flankieren sollen (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Postautostation Adresse Bahnhofplatz, 7000 Chur Bauherrschaft PTT Planer Richard Brosi, Robert Obrist Bauzeit 1990–1992

Im 19. Jahrhundert entstanden weltweit riesige Bahnhofshallen, die – als wichtige Repräsentationsbauten einer Stadt – zum Symbol und Verdichtungsraum von Modernität und Urbanität wurden. An diese Tradition knüpften die Architekten Richard Brosi (1931–2009) und Robert Obrist (1937–2018) an, als sie Mitte der Achtzigerjahre die Neugestaltung des Churer Bahnhofareals entwarfen. Ihr Vorschlag sah vor, das Gleisfeld auf einer Länge von 300 m mit einem verglasten Gewölbe von 52 m Spannweite zu überdecken, um dessen Bedeutung als Brennpunkt des öffentlichen Verkehrs und als Scharnier zwischen Alt- und Neustadt zeichenhaft zu überhöhen; flankiert von einer kommerziellen Randbebauung sollte sich der Bahnhof als neue Stadtmitte positionieren. Die Idee einer Neuordnung des Stadtgefüges in einem Wurf und das Denken im grossen Massstab erinnern an modernistische Städtebautheorien; im Kontext einer beschaulichen Alpenstadt haftet einem Vorhaben dieser Dimension leicht etwas Megalomanes an.

Realisiert wurde das ambitiöse Projekt lediglich in seinem westlichsten Abschnitt, dort, wo die spektakuläre Konstruktion aus Stahl und Glas das Plateau der Postautostation überspannt. Um die intendierte Eleganz des monumentalen Bauwerks zu gewährleisten, holte man sich Ingenieure aus Grossbritannien an Bord. So kam die Bündner Kapitale zu einem Werk des berühmten Peter Rice (1935–1992) vom Londoner Büro Ove Arup & Partners, das für das Tragsystem so ikonischer Strukturen wie dem Sydney Opera House verantwortlich zeichnet.

Das transparente Hallendach in Chur verfügt über ein neuartiges Stützwerk, dessen Hauptelement aus einer zitronenschnitzähnlichen Rohrbogenkonstruktion besteht, die über speichenartig angeordnete Zugbänder stabilisiert und an eingespannten Doppelstützen aufgehängt ist. Die Dachhaut aus Verbundsicherheitsglas hebt sich, statisch begründet und ästhetisch wirksam, leicht von der Tragkonstruktion ab. Im Innenraum sind die Scheinwerfer auf Wolken von runden Spiegeln gelenkt zwecks Streuung des künstlichen Lichts. So wird das Deck nachts genügend ausgeleuchtet ohne aber im Stadtbild als bengalisches Feuer zu wirken.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Köbi Gantenbein, Ariana Pradal, Jürg Ragettli, Ralph Feiner: Bauen in Graubünden. Ein Führer zur zeitgenössischen Architektur, Zürich 2006 (3., erw. Aufl.), S. 18/19; Hannes Ineichen (Hrsg.). Robert Obrist. Bauten, Projekte und Planungen 1962–2002 (Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Bd. 6), Blauen 2002, S. 77–93; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994, hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz (Informationen 1/95, Sonderheft), Chur 1995; R. B., R.O. [Richard Brosi, Robert Obrist]: Modern konzipiert, handwerklich ausgeführt: die Hallenkonstruktion des Bahnhofs Chur, erste Etappe, in: Werk, Bauen + Wohnen 80 (1993), Heft 11: Handwerklich, industriell, vorfabriziert, S. 28–35.

45 — Oberstufenschulhaus, Paspels

  • Der klare, kubische Sichtbeton-Bau präsentiert sich wie ein Fels in der Landschaft. In der Fassadengestaltung spiegelt sich die differenzierte Organisation der Verkehrs- und Nutzflächen. Hinter den in die Wand vertieften Fensterbändern befinden sich die Klassenräume. Die flächenbündig angeschlagenen Fenster belichten die Flur- und Treppenhausbereiche (© Ralph Feiner, Malans).

  • In den Erschliessungsbereichen – im Bild die grosszügige Eingangshalle des Erdgeschosses – bestehen Wände, Decken und Fussboden aus sichtbar belassenem Beton (© Ralph Feiner, Malans).

  • Erschliessungshalle im Obergeschoss: Das von vier Seiten einfallende Licht dramatisiert die unregelmässige Geometrie und unterstreicht den Charakter der zusammenlaufenden bzw. sich öffnenden Raumbereiche (© Ralph Feiner, Malans).

  • Auf wenige Materialien beschränkt: Die Konstruktion ist aus Beton, die Fensterrahmen und der Eingang aus edler Bronze, das Dach aus Kupfer (© Heinrich Helfenstein, in: Meseure, Tschanz, Wang: Architektur im 20. Jahrhundert, 1998, S. 314).

  • Mit Lärchenholz ausgekleidet, wirken die Schulzimmer wie Futterale. Mit Fenstern, die die ganze Länge des Raumes einnehmen, öffnen sie sich zur Umgebung (© Heinrich Helfenstein, in: Meseure, Tschanz, Wang: Architektur im 20. Jahrhundert, 1998, S. 314).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Stradas 4, 7417 Paspels Bauherrschaft Gemeinde Paspels Planer Valerio Olgiati Bauzeit 1997/98

Unter den ambitionierten jungen Bündner Architekten, die in den Neunzigerjahren ihren viel beachteten Durchbruch schafften, ist Valerio Olgiati (*1958) fraglos der Radikalste. Sein Thema ist nicht das kontextuelle Entwerfen, sondern eine «nicht-referenzielle», quasi «reine» Architektur ohne kulturelle und historische Bezüge; eine Architektur, die ihren Sinn aus sich selbst nährt und durch ihre Neuartigkeit die Vorstellungskraft der Menschen zu fesseln vermag.

Die Schulhauserweiterung in Paspels ist Olgiatis erstes signifikantes Werk: ein Monolith aus präzis gegossenem Sichtbeton, puristisch einfach und minimalistisch reduziert. Wie ein Felsblock, scharf geschnitten und feingeschliffen, ragt der karge Solitär unvermittelt aus dem Wiesenhang am oberen Siedlungsrand hervor. Mit seinem Pultdach bergwärts strebend setzt er sich gezielt von der älteren Schulanlage auf der anderen Strassenseite ab. Völlig auf sich selbst bezogen negiert er die Einbindung in einen grösseren Komplex und behauptet seine Eigenständigkeit.

Die Kanten des dreigeschossigen Gebäudes weichen – aussen kaum wahrnehmbar – um rund 5 Grad vom rechten Winkel ab. Das Spiel mit der unregelmässigen Geometrie wird im Innern gesteigert und zur Schaffung vielfältiger räumlicher Eindrücke genutzt. Dem verzogenen Quadrat ist in den beiden oberen Stockwerken ein verzerrtes Kreuz eingeschrieben, das sich aus der Anordnung der individuell geformten und unterschiedlich grossen Klassenzimmer in den Ecken generiert. Das aus allen Himmelsrichtungen in die Erschliessungshalle einfallende Licht lässt einen den spannungsvoll verästelten Raum im Tagesverlauf stets anders wahrnehmen. Bereichert wird das Raumerlebnis durch den Gegensatz zwischen den kühlen, asketisch harten Betonräumen der Korridore und den mit Lärchenholz warm ausgekleideten «Schulstuben» mit ihrer heimeligen Intimität – ein Kontrast, der sich auch akustisch auswirkt und die Sinne zusätzlich stimuliert. Dazu kommt die differenzierte Befensterung, die jeweils einen anderen Ausschnitt der umgebenden Landschaft in den Raum projiziert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Köbi Gantenbein, Ariana Pradal, Jürg Ragettli, Ralph Feiner: Bauen in Graubünden. Ein Führer zur zeitgenössischen Architektur, Zürich 2006 (3., erw. Aufl.), S. 162/163; Gute Bauten in Graubünden 2001 (BVR-Informationen 2/01, Sonderheft), hrsg. vom Bündner Heimatschutz und der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 2001; Anna Meseure, Martin Tschanz, Wilfried Wang (Hrsg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Schweiz, München/London/New York 1998, S. 314/315; Valerio Olgiati: Paspels, mit einem Text von Alberto Dell’Antonio, Zürich 1998; Benedikt Loderer: Der Fels von Paspels, in: Hochparterre 11 (1998), Heft 6/7, S. 22–24; M.T. [Martin Tschanz]: Schulhauserweiterung Paspels, in: Archithese 27 (1997), Heft 2, S. 36/37.

44 — Ferienhaus Schmid, Splügen

  • Zum Bach hin wird die Holzständerkonstruktion durch sechs stelzenartige Holzpfosten getragen und im unteren Teil mit einer Veranda tief eingeschnitten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die vertikale Lärchenholzschalung gemahnt an die Verkleidungen von Stallscheunen im Tal; sie betont den hüttenartigen Charakter des Ferienhauses, der seinerseits auf die temporäre Nutzung verweist (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ein mächtiger, aus Gneisplatten gefügter Ofen zwischen Ess- und Wohnbereich bildet den warmen Kern des Hauses. Der Essraum ist zum Dach sowie zur drei Stufen höher gelegenen Stube hin offen. Die Galerie des Obergeschosses dringt dramatisch in den Luftraum über dem Essbereich ein (© Ralph Feiner, Malans).

  • Aufnahme um 1963. Gemauert und verputzt sind der Sockel und die wetterexponierte Ecke des Hauses sowie der Treppenturm, der in plastischer Ausformung aus der Fassadenflucht hervortritt (© Fritz Maurer, in: Maurer/Oechslin: Ernst Gisel, 2010, S. 155).

  • Aufnahme um 1963. Hinter der Südwestfassade befinden sich im Erdgeschoss die Stube (mit Veranda) und im Obergeschoss die beiden Schlafzimmer, die über separate Zugänge zur Loggia verfügen (© Fritz Maurer, in: Maurer/Oechslin: Ernst Gisel, 2010, S. 155).

  • Aufnahme um 1963. Das steile Pultdach gibt dem Gebäude eine prägnante Form; im Dorf ist das Haus als «Seilbahnstation» bekannt (© Fritz Maurer, in: Maurer/Oechslin: Ernst Gisel, 2010, S. 155).

Bauaufgabe Wohnbau Adresse Splügenpassstrasse 8, 7435 Splügen Bauherrschaft Privat Planer Ernst Gisel Bauzeit 1962/63

Das Ferienhaus ist eine prototypische Bauaufgabe des 20. Jahrhunderts – und machte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einen gewichtigen Teil der Bautätigkeit in Graubünden aus. Die Popularisierung des Ferienhauses gründet – als genuin massentouristisches Phänomen – auf der wachsenden wirtschaftlichen Prosperität, der vermehrten Freizeit sowie der individualisierten Mobilität. Breite Bevölkerungskreise konnten sich nun leisten, was früher einer kleinen Schicht von Reichen vorbehalten war. Diese Demokratisierung hat auf die Qualität gedrückt. In der Masse der Zweitdomizile sind Bauten mit gestalterischem Anspruch eine Rarität.

Eine Trouvaille ist das Ferienhaus Schmid in Splügen. Es steht isoliert auf einem kleinen Grundstück zwischen dem Hüscherabach und der Splügenpassstrasse, direkt gegenüber dem auf der anderen Talseite gelegenen Dorf, das mit dem Bau der Nationalstrasse A 13 in den Sog des Tourismus geriet. Der von Ernst Gisel (* 1922; Objekt 14), einem der vielseitigsten und bedeutendsten Architekten der Nachkriegszeit entworfene Bau vereint den Vorzug einer bequemen Erschliessung mit dem Privileg einer idyllischen Lage in der Natur. Unmittelbar an die Strasse grenzend wendet er sich gleichzeitig von dieser ab dem nahen Gewässer zu, dessen Rauschen den Lärm des Verkehrs zu übertönen vermag. Mit der Kombination von gemauerten und hölzernen Teilen bleibt er eng an der bäuerlichen Bautradition der Region. Unkonventionell allerdings sind der trapezförmige Grundriss und das fassadenbündige Pultdach, die Fensterformate und der bauchig vortretende Treppenturm, der dem bescheiden auftretenden Gebäude eine plastische Note verleiht. Statt als traditioneller Blockbau ist der hölzerne Teil als moderner Ständerbau konstruiert; eine Stülpschalung aus rohem Lärchenholz stellt einen Bezug zu den örtlichen Zweckbauten her. Neuartig ist auch der strukturelle Aufbau des Hauses mit split-level-artig zueinander versetzten Wohnebenen, der abwechslungsreiche räumliche Bezüge schafft. Bachseitig wird über eine Veranda und eine Loggia die Symbiose mit der Landschaft gesucht.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bruno Maurer und Werner Oechslin (Hrsg.): Ernst Gisel Architekt, Zürich 2010, S. 154/155.

43 — Haus Zulauf, Chur

  • Plastisch geformt und auf wenige Materialien beschränkt vermag das Einfamilienhaus seine Umgebung zu prägen (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Wohnbau Adresse Berggasse 40, 7000 Chur Bauherrschaft Rudolf Zulauf Planer Georg (Jorge) Rudolf Bauzeit 1967

Als «béton brut» (rohen Beton) hatte Le Corbusier (1887–1965) seinen bevorzugten Werkstoff beschrieben. Daraus wurde der Begriff «Brutalismus» kreiert als Bezeichnung für jenen markanten Baustil, der sich in den Fünfzigerjahren zu artikulieren begann und in den Sechzigerjahren zu voller Entfaltung gelangte. Brutalistische Architektur ist gekennzeichnet durch die Offenlegung der Konstruktion, die «ehrliche», sichtbar gemachte Verwendung des Materials – allen voran des in seiner ursprünglichen Beschaffenheit belassenen Betons – und das Vertrauen in die Wirkkraft massiger Bauformen.

Brutalismus blieb nicht auf grosse, öffentliche Gebäude beschränkt. Auch bei bescheideneren Bauaufgaben wie etwa privaten Wohnhäusern setzte man auf wuchtigen Ausdruck und die sinnliche Ästhetik des Sichtbetons. Ein beredtes Beispiel hierfür ist das Haus Zulauf am Fusse des Mittebergs nordöstlich der Altstadt von Chur: ein kompakter Quader im steilen Gelände zwischen Waldrand und Gasse, der bei aller Mächtigkeit einen leichten, verspielten Zug aufweist. Das zweistöckige Haus ist eine expressive Betonplastik mit kühn vorkragenden und dramatisch zurückversetzten Teilen. Das überhohe Dach, welches das Gebäude in der Art einer Brücke überspannt, betont die Schwere der monolithischen Konstruktion, die ihrerseits über dem Sockel zu schweben scheint. Die Betonoberflächen stellen demonstrativ die Schalungsstruktur zur Schau; daneben prägen massives Holz und Glas das Äussere des Baus.

In einem beschaulichen Einfamilienhaus-Quartier mit mehrheitlich kleinteiligen Giebelhäusern wirkt das grosszügige Flachdachgebäude wie ein Manifest. Es offenbart eine für die Moderne typische kompromisslose Haltung, die nicht die Anpassung, sondern die Überwindung der Vergangenheit sucht. Entworfen hat das Bauwerk der Bündner Architekt Georg Rudolf (1927–2019), der nach seinem Studium im Büro von Jacques Schader (1917–2007) die avantgardistischen Architektur-Tendenzen der Zeit absorbiert hatte – und diese in den Sechzigerjahren gar nach Peru importierte.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 15; http://cammp.ulima.edu.pe/autores/rudolf-georg/

42 — Comanderkirche, Chur

  • Die Kirche ist als Einheitsraum in Gestalt eines Rechtecks mit polygonalem Abschluss und flacher Giebeldecke konzipiert. Die Liturgiezone wird durch raumhohe Fensterraster aus Beton gerahmt, deren blau gefärbte Scheiben die Stimmung im Innern prägen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die verputzten Fassaden der Kirche sind durch (ebenfalls verputzte) Pilaster rhythmisiert und durch die Gitterformen der Betonfenster akzentuiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Luftaufnahme, Oktober 1957. Als kirchliches Wahrzeichen markiert der Bau (am linken Bildrand) seine Präsenz im aufstrebenden Aussenquartier (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Werner Friedli).

  • Aufnahme von 1958. Die Kirche steht an der Kreuzung Sennenstein-/Ringstrasse; letztere ist das städtebauliche Rückgrat des Rheinquartiers (© Stadtarchiv Chur, F 14.002 ).

  • Aufnahme von 1958. Das sehr grosse Grundstück machte es möglich, die Kirche von den lärmigen Strassen zurückzunehmen und sie frei in die Gartenanlage zu platzieren (© Stadtarchiv Chur, F 14.002; Foto Gross, St. Gallen ).

Bauaufgabe Sakralbau Adresse Sennensteinstrasse 30, 7000 Chur Bauherrschaft Evangelische Kirchgemeinde Chur Planer Cyrill A. von Planta Bauzeit 1956/57

Ausgelöst durch den markanten Bevölkerungsanstieg und den Zuwachs der städtischen Agglomerationen wurden in den Fünfziger- und Sechzigerjahren schweizweit viele neue – vorab katholische – Kirchen gebaut. Der Sakralbau war denn auch ein wichtiges Thema im baukulturellen Diskurs der Zeit. Mit der Markuskirche in Zürich-Seebach hatte Albert H. Steiner (1905–1996) 1948 «eine echt reformierte Kirche» geschaffen, wie die Zeitschrift Werk 1952 konstatierte: eine Hallenkirche in Form eines gestreckten Oktogons ohne die herkömmliche Trennung von Schiff und Chor. Dieses Bauwerk stand auch beim Bau der – weitaus unprätentiöseren – Comanderkirche Pate, die 1956/57 im aufstrebenden Churer Rheinquartier entstand. Der von Cyrill A. von Planta (1906–2000) entworfene Komplex ist eines der markantesten Beispiele einer Bündner Architektur der Fünfzigerjahre, die eine konservative Spielart der Moderne repräsentiert.

Die Kirche wurde, vom Verkehr abgerückt, mitten auf eine grosse Parzelle im Winkel zweier Strassen platziert; so erhielt sie, wie viele öffentliche Bauten der Nachkriegszeit, den Charakter eines Gebäudes im Park. Der zur Strassenkreuzung vorgeschobene Glockenturm lenkt den Blick auf die Anlage und stellt durch einen Laubengang die Verbindung mit der Kirche her. Mit seinen gestrichenen Betonfassaden unterscheidet sich der freistehende Turm vom Hauptgebäude, das in konventioneller Art als gemauerter Putzbau ausgeführt ist; die farblich hervorgehobenen betonierten Gitterfenster verleihen ihm dennoch einen zeitgenössischen Touch.

Bei der Gestaltung des Innenraums lag der Akzent auf dem Zusammenfassen der Gemeinde und deren nahen Beziehung zur Kanzel und dem Abendmahlstisch als den Zentren der liturgischen Handlung. Dazu dienen die Verschleifung von Langhaus und Chor, die konzentrische Gruppierung der Kirchenbänke und die Verschmelzung der Empore mit dem Schiff durch seitliche Aufgänge, die wie zwei Arme in den Raum greifen. Durch die blauen und roten Scheiben der markanten Fenster fällt ein gedämpftes Licht, das die ruhige Stimmung des sachlich-schlichten Predigtsaals unterstützt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 4; Das Werk 39 (1952), Heft 2: Protestantischer Kirchenbau; Neue Bündner Zeitung, 1.11.1957.

41 — Sala polivalenta, Tschlin

  • Ein langgezogenes Gebäude, das sich durch die Querstellung der Massstäblichkeit des Dorfes einfügt (© Ralph Feiner, Malans).

  • In intelligenter und subtiler Weise wurde die Hanglange genutzt: Die Mehrzweckanlage fügt sich in die Staffelung des Dorfes ein (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der Bau fällt auf und verbindet das verträumte Dorf mit der modernen Welt: die rote Mehrzweckhalle neben dem (nicht mehr gebrauchten) Schulhaus (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der Baukörper ist geschlossen und nur von hochliegenden Bändern belichtet. Einzig die grosse Öffnung in der Stirnwand macht die Kanzellage über dem Inntal auch im Saalinnern erlebbar (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Mehrzweckhalle Adresse Curtins 6, 7559 Tschlin Bauherrschaft Gemeinde Tschlin Planer Bearth & Deplazes Bauzeit 1991–1993

Wer vom Unterengadiner Talgrund die kurvige Strasse hochfährt ins 450 m höher gelegene Tschlin, bemerkt sie, sobald die Siedlung ins Blickfeld rückt: die Mehrzweckhalle am exponierten Südrand des Dorfs, das sich so anmutig ins steile Gelände schmiegt. Ein geschlossener Baukörper aus rot lasiertem Beton, konsolartig über den Sockel auskragend, um seine Grenzlage zu betonen. Der festliche Anstrich, der das Interesse auf das Gebäude lenkt, verweist auf dessen öffentlichen Charakter – und symbolisiert den Geist des Aufbruchs, dem es seine Entstehung verdankt. Der gleichermassen spektakuläre wie unaufgeregte Saalbau ist ein frühes Werk der Architekten Valentin Bearth (*1957) und Andrea Deplazes (*1960), die 1988 in Chur gemeinsam ein Büro eröffneten und rasch mit bemerkenswerten Wettbewerbsbeiträgen auf sich aufmerksam machten. Aus einem Konkurrenzverfahren resultierte auch ihr Tschliner Bau. Chirurgisch präzis in das historische Ortsbild eingefügt, zeugt er von der Suche nach einer angemessenen zeitgemässen Reaktion auf Tradition und Topografie, die das Schaffen der ambitionierten jüngeren Generation Bündner Architekten in den Neunzigerjahren kennzeichnet (Objekt 15).

Die Halle ergänzte einst das (heute ungebrauchte) Schulhaus, mit dem sie durch einen Terrassenbau verbunden ist. Dem Verlauf der Höhenkurven folgend, knickt der stattliche neue Kubus vom alten Gebäude ab; in den Hang geschoben und auf den Platz gestellt, gelingt es ihm, den vorhandenen Massstab des Dorfs nicht zu sprengen. Bei aller siedlungsbaulichen Einpassung bleibt die Eigenständigkeit gewahrt. Auf den gestrichenen Oberflächen der betonierten Fassaden zeichnen sich die Schalungsfugen ab, wodurch der massive Bau wie aus dünnen Platten konstruiert erscheint. Der Eindruck eines leichten Pavillons wird durch das fragile und auf subtile Weise leicht gewölbte Satteldach verstärkt, das sich wie ein Blatt über das Gebäude legt. Im Innern ist die Halle satt mit gewachstem Lärchenholz ausgeschlagen; eine grosse Öffnung in der Stirnwand lässt einen die Kanzellage über dem Inntal erleben.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Köbi Gantenbein, Jann Lienhart, Cordula Seger: Bauen in Graubünden. Ein Führer zur Gegenwartsarchitektur, Zürich 2006 (3., erw. Aufl.), S. 116–117; Heinz Wirz (Hrsg.): Bearth & Deplazes. Konstrukte/Constructs, Luzern 2005, S. Heinz Wirz (Hrsg.): Valentin Bearth & Andrea Deplazes, Texte von Ákos Moravánsky, Luzern 1999, S. 22–31; Martina Hauser: Schulhauserweiterung in Tschlin, in: Faces (1995), Heft 34/35: Architectures récentes dans les Grisons, S.III; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994 (Informationen 1/95, Sonderheft), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz, Chur 1995.

40 — Bündner Lehrerseminar Cleric, Chur

  • Die Westfassade des hohen Klassentraktes offenbart besonders deutlich die sorgsame Gestaltung der Sichtbeton-Fassaden (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ostfassade des Klassentraktes. Das Erdgeschoss ist einem Sockel gleich zurückversetzt und weitgehend verglast, so dass der Bau visuell zu schweben beginnt; die hohe Transparenz sorgt für eine Verbindung der Innenräume mit dem Aussenraum (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der Haupteingang im Spezialtrakt; auf dem Pausenplatz steht eine Stele des Zürcher Bildhauers Ödön Koch (© Ralph Feiner, Malans).

  • Sichtbeton, Kunststein, Holz und Glas prägen die Durchgangsbereiche mit den frei eingehängten Treppen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Innenräume – im Bild die renovierte Aula – sind durch strukturelle Betonelemente wie Pfeiler und Unterzüge und das Holzwerk charaktersiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Historische Luftaufnahme von Südwesten; wie die Äste eines Baumes verzahnen sich die an- und übereinandergelegten Gebäudetrakte mit dem Aussenraum (© Henn, StAGR XXI d D 75).

    .

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Plessurquai 63, 7000 Chur Bauherrschaft Kanton Graubünden Planer Andres Liesch Bauzeit 1962/63

Als frühes Beispiel einer Sichtbetonarchitektur in Graubünden gehört das Churer «Cleric» zu den prägendsten Bauten der Nachkriegsmoderne im Kanton; errichtet als Lehrerseminar, ist es heute Teil der Bündner Kantonsschule. Der monumentale Bau resultierte aus einem 1960 durchgeführten Wettbewerb, den der Churer Andres Liesch (1927–1990) für sich entschied; dem jungen ETH-Absolventen, der seit 1957 in Zürich und Chur ein eigenes Büro führte, brachte dieser Erfolg den beruflichen Durchbruch (Objekt 3). Das Schulgebäude, das in kraftvoller Art den Ort dominiert, knüpft an die internationale Moderne der Dreissigerjahre an – und manifestiert eine deutliche Abkehr von der moderaten, quasi auf den heimatlichen Boden geholten Moderne, wie sie im Nachgang der Landi 1939 in den Fünfzigerjahren noch vorherrschend war.

Geschickt ins Gelände eingebettet, breitet sich der verhältnismässig niedrige Gebäudekomplex am Fusse des Kathedralhügels am flachen Ufer der Plessur aus. Das Bauvolumen ist in drei ineinandergreifende Flachdachtrakte unterschiedlicher Funktionen aufgegliedert. Das Zentrum der mehrflügeligen Anlage bildet der langgestreckte Spezialtrakt von zwei Geschossen, ihm sind in sinniger Staffelung rechtwinklig zwei zueinander versetzte Riegel angeschoben bzw. übergestülpt: zum Fluss hin die eingeschossige Aula, gegen den steilen Fels der viergeschossige Klassentrakt. Um einen Vorplatz freizugeben, ist der Bau vom Plessurquai markant zurückversetzt; über Freitreppen gelangt man auf die weite Terrasse des Pausenplatzes, die gleichsam als Podest für die Hochbauten dient. Zur plastischen Wirkung des Baus trägt der Aufbau der Fassaden das Seine bei: Die vorfabrizierten Betonplatten mit der sich abzeichnenden Schalungsstruktur sind vorgehängt und erzeugen ein scharf artikuliertes Fugenbild, zusätzliche Akzente setzen die kräftig hervortretenden Fensterpfosten und Brise-soleils.

2010–2012 wurde das «Cleric» einer Gesamtsanierung unterzogen. Pablo Horváth (*1962) hat die schwierige Aufgabe einer Anpassung an die aktuell gültigen Neubaunormen im Sinne einer «rekonstruierenden Erneuerung» behutsam gelöst.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Daniel Walser: «Substanz gewinnen […].» Andres Liesch (1927–1990), Architekt, in: Bündner Monatsblatt, 1/2019, S. 178–199; Michael Hanak: Wiederbelebter Brutalismus […], in: werk, bauen+wohnen 10/2013 (Junge Denkmäler), S. 30–35; Michael Hanak: Skulpturale Nachkriegsmoderne in Chur, in: Bündner Monatsblatt, 1/2013, S. 65–98; Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 10; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 305, S. 75.

39 — Pùnt da Suransuns, Viamala

  • Stimmige Massarbeit: Ästhetik und konstruktive Effizienz machen den Steg zu einer Attraktion (© Ralph Feiner, Malans).

  • Eine elegant geschwungene Linie, welche die wilde Natur akzentuiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Jürg Conzetts kleiner Steg repräsentiert eine hocheffiziente, filigrane und ästhetisch ausgereizte Ingenieurskunst, wie sie heute nicht mehr selbstverständlich ist (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die kleine Fussgängerbrücke im Dialog mit Christian Menns Nationalstrassenbrücke von 1967 (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Brückenbau Adresse Viamala, 7432 Zillis Bauherrschaft Verein KulturRaum Viamala Planer Conzett Bronzini Gartmann AG Bauzeit 1999

Als innovativer Konstrukteur hat er viele der herausragenden Gebäude, die seit den Achtzigerjahren in Graubünden entstanden sind, entscheidend mitgeprägt: Jürg Conzett (*1956), der seit 1988 (mit wechselnden Partnern) in Chur ein eigenes Ingenieurbüro führt. Seine ersten sieben Berufsjahre im Atelier von Peter Zumthor (*1943) haben ihn den Umgang mit dem Ort und der Tradition gelehrt und seine Affinität zu Architektur und Geschichte verstärkt. Als Ingenieur, der sein Metier als Kultur- und nicht als blosse Dienstleistung versteht, gehen bei ihm technische Raffinesse und ästhetischer Anspruch Hand in Hand. Besonderes Aufsehen hat Conzett als Brückenbauer erregt. Grosse Virtuosität entwickelte er dabei im Bereich der Fussgängerstege, die er jeweils zum Experimentierfeld für unkonventionelle konstruktive und architektonische Ansätze macht.

Die 1999 errichtete Pùnt da Suransuns ist eine Spannbandbrücke von 40 m Öffnung, die den Wanderweg durch die spektakuläre Viamala-Schlucht über den Hinterrhein führt. Wie ein umgekehrter flacher Bogen schwingt sich der Hängesteg in sachter Steigung über den Fluss. Der Gehweg besteht aus mörtellos aneinandergefügten, durch dünne Aluminiumbänder verkeilte Platten aus Andeerer Granit, die über untenliegende Bänder aus rostfreiem Stahl vorgespannt und dadurch effizient versteift sind. Ein schnörkelloses Stabgeländer aus Edelmetall verbindet die schweren Steinplatten mit den Zugbändern; die fein proportionierte Brüstung trägt viel zur filigranen Gesamtform des Bauwerks bei. Auf raffinierte Art wird hier die Druckfestigkeit des Steins und die Zugfestigkeit der Stahlbänder ausgenutzt zur Schaffung eines Tragwerks von äusserster Sparsamkeit und Eleganz. Die unorthodoxe Konstruktion ist eine Hommage an den Schweizer Bauingenieur Heinz Hossdorf (1925–2006), der 1954 für den Neubau der Teufelsbrücke in der Schöllenenschlucht erstmals die Verwendung von vorgespanntem Granit vorgeschlagen hatte. Fundiertes historisches Wissen für neue Lösungen fruchtbar zu machen, gehört zu den besonderen Kennzeichen von Jürg Conzetts Werk.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Landschaft und Kunstbauten. Ein persönliches Inventar von Jürg Conzett, Zürich 2012 (2., korr. Aufl.), S. 102–105; Tom F. Peters: Der entwerfende Schweizer Ingenieur. Robert Maillart, Christian Menn und Jürg Conzett, in: Bündner Monatsblatt 4/2004, S. 227–245, hier. S. 240–245; Gute Bauten in Graubünden 2001 (BVR-Informationen 2/01, Sonderheft), hrsg. vom Bündner Heimatschutz und der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 2001; Neues Bauen in den Alpen. Architekturpreis 1999, hrsg. von Christoph Mayr Fingerle, Basel […] 2000, S. 18–29; Jürg Conzett: Pùnt da Suransuns, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Nr. 1/2, 11. Januar 2000, S. 4–8.

38 — Haus Brügger, Chur

  • Eigenwillig erscheint der dynamische Aufriss der Gartenfassade mit dem die Asymmetrie betonenden Pultdach (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die hangaufwärts gerichtete Ostfassade ist die abstrakteste Front – ein Quadrat mit zwei scharf ausgeschnittenen Fenstern (Frauenkulturarchiv Graubünden, Werkarchiv Monica Brügger Nr. 200).

  • Unten die Garage – eine Hinweis auf die gestiegene Bedeutung des Automobils und der individuellen Mobilität (Frauenkulturarchiv Graubünden, Werkarchiv Monica Brügger Nr. 200).

  • Kurz nach Fertigstellung im Winter 1960 (Frauenkulturarchiv Graubünden, Werkarchiv Monica Brügger Nr. 200).

Bauaufgabe Wohnbau Adresse Calunastrasse 19, 7000 Chur Bauherrschaft privat Planer Monica Brügger Bauzeit 1959/60

Ein eigenes Haus im Grünen war in den Jahren der Hochkonjunktur für viele das Wohnideal schlechthin. Mit dem zunehmenden Wohlstand konnten sich immer mehr Leute den «Traum vom Einfamilienhaus» verwirklichen; in den 1960er-Jahren erreichte dieser Eigenheim-Boom einen Höhepunkt. Das Haus Brügger, das 1959/60 an privilegierter Lage im damals noch wenig überbauten Sonnenhang nordöstlich der Churer Altstadt errichtet wurde, ist das «Gesellenstück» von Monica Brügger (*1932), der ersten ETH-Architektin Graubündens, die drei Jahrzehnte lang das Bündner Architekturgeschehen mit zu prägen vermochte. Mit den Eltern als Bauherren konnte Brügger ihr Erstlingswerk den eigenen Vorstellungen entsprechend formen – und sich als entschiedene Vertreterin einer modernistischen Architekturauffassung empfehlen.

Das Haus besetzt den nördlichen Rand einer fünfeckigen Parzelle und ist in einer eindeutigen Geste nach Süden orientiert. Das dem scharfkantigen Volumen ohne Überstand aufgesetzte Pultdach steigt zum Berg hin an und thematisiert die Hanglage des Grundstücks, das für den Bau des Hauses ausgeebnet worden ist. Eigenwillig erscheint der dynamische Aufriss der zum Garten gerichteten Hauptfront, deren strikte Zweiteilung die Asymmetrie des Baukörpers akzentuiert. Die rechte Fassadenhälfte ist nach innen zurückversetzt zur Schaffung eines gedeckten Sitzplatzes bzw. Balkons – mit ihrer Holzverschalung, die mit den glatt verputzen weissen Flächen des übrigen Gebäudes kontrastiert, vermittelt sie den Eindruck eines nach aussen offenen Innenraums. Die linke Haushälfte, die den Ess- und Wohnbereich sowie eine Küche enthält, gibt durch grosszügige Fensterfronten den Blick in die Berglandschaft frei. Dominant tritt hier der mit Quarzit-Steinen ummantelte Kamin hervor, der turmartig aus dem Boden wächst und weit über das Dach hinausragt. Das Cheminée ist auch im Innern in Naturstein ausgebildet. Die Betonung der Feuerstelle und ihre rustikale Ausformung zeugt vom Einfluss des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright (1867–1959) auf die damalige junge Architektengeneration.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 7; Carmelia Maissen: Bauen für die Gemeinschaft. Über das Churer Schulhaus Otto Barblan von Monica Brügger, in: Bündner Jahrbuch, 51 (2009), S. 133–142.

37 — Chiesa Madonna di Fatima, Giova

  • Das begehbare Kleinod ist ein Fremdling in der Alpenwelt, ein Beispiel italienisch inspirierter Designarchitektur (© Ralph Feiner, Malans).

  • Den quadratischen Hauptraum charakterisieren acht kreisförmig angeordnete Säulen, auf denen der kegelförmige Lichtfänger ruht (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Kapelle im Bau; sie ist tatsächlich «vom Himmel gefallen», wenn auch in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und per Helikopter transportiert (© Fausto Tognola: Per l’inaugurazione della Chiesa Madonna di Fatima Giova, Giova 1988).

  • Frontalansicht: Spiegelsymmetrie als Organisationsprinzip (© Fausto Tognola: Per l’inaugurazione della Chiesa Madonna di Fatima Giova, Giova 1988).

  • Die Kapelle steht da wie das verkleinerte Modell einer grossen Kirche; weiss, spielerisch komponiert, ein Gegensatz zur Natur (© Fausto Tognola: Per l’inaugurazione della Chiesa Madonna di Fatima Giova, Giova 1988).

Bauaufgabe Sakralbau Adresse Giova, 6542 Buseno Bauherrschaft Fondazione Ecclesiastica Cappella della Madonna di Fatima Planer Mario Campi, Franco Pessina Bauzeit 1986–1988

Durchgestylt wie ein Designobjekt, zeichenhaft auf Bildwirkung komponiert – kein anderes Bündner Bauwerk gibt sich so unverhohlen postmodern wie die 1988 fertiggestellte Kapelle des Weilers Giova hoch über dem Eingang zum Calancatal. Sie erinnert an die originellen Mikroarchitekturen der «Tea & Coffee Piazza»-Serie, die der italienische Haushaltwarenhersteller Alessi seinerzeit von prominenten Architekten wie etwa Aldo Rossi (1931–1997) gestalten liess. Entworfen wurde der unkonventionelle Kirchenbau von Mario Campi (1936–2011) und Franco Pessina (*1933), wichtigen Vertretern der Tessiner «Tendenza», die mit strengen Symmetrien unter Verwendung geometrischer Grundkörper und abstrahierter Zitate klassi(zisti)scher Architektur expressive Kompositionen schufen.

Von der historischen Siedlung isoliert am Rande einer kleinen ebenen Fläche platziert, hat die Kapelle keinen anderen Referenzpunkt als die wilde Gebirgslandschaft um sich herum. Dem Organischen der Natur begegnet sie mit forcierter Künstlichkeit: rational fassbar, elaboriert, scharfkantig-geschliffen und strahlend weiss – wie aus einer anderen Welt in die alpine Szenerie versetzt. Aus der bewussten Distanznahme zum naturalistischen Spektakel der Umgebung nährt die Architektur ihre Ausdruckskraft und behauptet ihre Eigenständigkeit.

Die Kirche erhebt sich über einem rötlich gefärbtem Betonsockel als einheitlich verputzter Quader, der durch signifikante Aufbauten seine funktionale Dreiteilung markiert. Ein Portikus in Gestalt einer Giebelwand mit prägnant akzentuierten Treppenaufgängen bezeichnet den Eingang und bestimmt die Richtung des Baus. Die imposante «Kuppel» in Form eines Kegelstumpfes verweist auf den quadratischen Hauptraum, dem sie als Lichtfänger dient; im Innern wird sie gestützt von einem Säulenrund, welches das Zentrum des Kirchenschiffs betont. Als Lichtschacht fungiert auch der kastenförmige Glockenträger, der den winzigen Altarraum im Westen lokalisiert. In seiner Gesamtform wirkt der Bau wie ein ummantelter Leuchtturm – ein Gehweg am Fusse des konischen Turms untermauert diese Konnotation.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Rudolfs Stegers: Bibliographie sakraler Gebäude […], Berlin 2010, S. 28/29; Fabrizio Brentini: Bauen für die Kirche. Katholischer Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, Luzern 1994, S. 261; Kristin Feireiss (Hrsg.): Mario Campi Franco Pessina. Bauten und Projekte Buildings and Projects 1962–1994, Berlin 1994, S. 148–151; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 3 (Westschweiz, Wallis, Tessin), Zürich 1996, Nr. 630, S. 249; L.G.: Chiesa di Nostra Signora di Fatima, Buseno, in: domus, Nr. 703, März 1989, S. 27–35; Fausto Tognola: Per l’inaugurazione della Chiesa Madonna di Fatima Giova, Giova 1988.

36 — Chamanna Coaz, Val Roseg

  • Die kristalline Gestalt zusammen mit den traditionellen Bruchsteinmauern und der im Eingangsbereich vorhandenen Terrasse sind unverkennbare Merkmale einer Eschenmoser-Hütte (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Architektur der von Eschenmoser entworfenen Hütten lebt von der Spannung zwischen der gewaltigen Landschaft …

  • … und einer in sich gekehrten Hüttenatmosphäre (© Ralph Feiner, Malans).

  • Zustand vor der Erweiterung von 1982 (© Robert Schönbächler, Alpines Museum der Schweiz, Bern).

Bauaufgabe Berghütte Adresse Vadret da Roseg 4, 7503 Samedan Bauherrschaft SAC Sektion Rätia Planer Jakob Eschenmoser Bauzeit 1964, Erweiterung 1982

Seit seiner Gründung 1863 bemühte sich der Schweizer Alpen-Club um die Schaffung von Unterkünften im (Hoch-)gebirge. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die Zunahme des Tourismus und die gesteigerten Komfortansprüche der Nutzer zu einer Intensivierung dieser Bautätigkeit. Unter den SAC-Hütten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stechen die Bauten von Jakob Eschenmoser (1908–1993) markant hervor. Zwischen 1957 und 1986 realisierte der St. Galler Architekt im Auftrag des SAC ein konzeptionell und gestalterisch einheitliches Oeuvre von insgesamt 15 Neu- und Umbauten. Formal gehören seine eigenwilligen Hütten dem organischen, quasi naturnahen Bauen an; Vorbilder sind in Hans Leuzingers erratischer Planura-Hütte von 1930 und Heinrich Tessenows Villa Böhler von 1918 zu finden. 1973 legte Eschenmoser seine Gedanken zum Hüttenbau in einer eigenen Publikation dar. Unter den elf porträtierten Werken findet sich auch die Coaz-Hütte in der Val Roseg, die 1964 als Ersatz für einen weiter talaus gelegenen älteren Bau errichtet worden war. Das nach dem Erstbesteiger des Piz Bernina, Johann Coaz (1822–1918), benannte Refugium auf 2610 m ü.M. stellt ein geradezu idealtypisches Beispiel einer «Eschenmoser-Hütte» dar.

Konstruiert mit traditionellem Bruchsteinmauerwerk, ruht der kompakt-gedrungene Bau einem Findling gleich in der urtümlichen Gesteinslandschaft. Seine kristalline Gestalt ist dem polygonalen Grundriss geschuldet. Aus ihm erklärt sich auch die besondere Geometrie des Dachs, das sich wie ein Schildkrötenpanzer schützend über das introvertierte Gebäude legt. Der Grundriss ist schneckenförmig aus der Mitte entwickelt und Ausdruck einer präzisen Idee optimaler Raumnutzung. Alle Räume sind entlang der Aussenmauer konzentriert, die Verkehrsflächen so auf ein Minimum reduziert. Die trapezförmige Form der Schlafplätze im Dachgeschoss, die dem Oberkörper mehr Platz gewährt als den Füssen, leitet sich ab von der menschlichen Anatomie.

Der 1982 von Eschenmoser seitlich angefügte Erweiterungstrakt ordnet sich dem Altbau unter – allerdings ohne Verzicht auf Eigenständigkeit.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Luca Gibello: Hüttenbau im Hochgebirge. Ein Abriss zur Geschichte der Hüttenarchitektur in den Alpen, Bern 2014, S. 100–102; Roland Flückiger-Seiler: 150 Jahre Hüttenbau in den Alpen. 2. Teil: Eschenmoser und neue Experimente, in: Die Alpen, 8/2009, S. 26–31; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, S. 87; Jakob Eschenmoser: SAC-Hütten einst und heute, in: Terra Grischuna 1988/Heft 4, S. 18–21; Jakob Eschenmoser: Vom Bergsteigen und Hüttenbauen, Zürich 1973, S. 82–93.

35 — Falegnameria Sciuchetti, Spino

  • Die Schreinerei in Spino steht exemplarisch für die überzeugende Strahlkraft des Naheliegenden und Einfachen, die Ruinellis Arbeit auszeichnet (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ruinellis Vorliebe für das Einfache wird in den strengen Symmetrien, in eindeutigen Formen und Geometrien deutlich (© Michael Bühler).

  • In der Reduktion der Mittel ist die Schreinerei verwandt mit dem historischen Baubestand der Region (© Michael Bühler).

  • Die unbehandelten Holzbretter verändern sich mit den Jahren; an der «lebendigen» Patina lassen sich die Spuren der Zeit ablesen (© Michael Bühler).

  • Blick ins Innere der Halle (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Gewerbebau Adresse Spino 23, 7606 Promontogno Bauherrschaft Giuseppe Sciuchetti + Co. Planer Armando Ruinelli Bauzeit 1990/91

Armando Ruinelli (*1954) gehört zu den profiliertesten Vertretern einer aus dem Bestand heraus entwickelten Architektur. Massgeblich geprägt wurde seine Architekturauffassung von Michael Alder (1940–2000), der 1981 im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der Ingenieurschule beider Basel eine akribische Analyse der Siedlungen und Bauten von Soglio erstellte. Ruinelli hat diese architektonische Erforschung seines Heimatdorfes mit begleitet. Alder wurde zum «Lehrmeister» des gelernten Hochbauzeichners, der sich autodidaktisch zum Architekten weiterbildete. Wie jenem sollte auch Ruinelli das anonyme, ländliche Bauen zur zentralen Inspirations- und Reflexionsquelle werden. Seine Arbeit konzentriert sich zur Hauptsache auf das Bergell, sein Hauptanliegen ist die Kontinuität: das Weiterbauen der alten Bauerndörfer mit neuer Architektur, die nicht als Zäsur wahrgenommen werden will und doch gegenwärtig wirken soll. Die Respektierung der Massstäblichkeit und Körnung eines Ortes charakterisiert sein Werk, ebenso die Tradierung der eindeutigen, unprätentiösen Formen und der reduzierten Materialisierung, die der ruralen Bauweise eigen sind.

Dass sich auch mit ungewohnten Bauaufgaben Kontinuität schaffen lässt, hat Ruinelli beim Bau der Schreinerei Sciuchetti bewiesen, einer grossvolumigen Gewerbehalle am Rande eines kleinen Weilers im Talgrund des unteren Bergells. Dank der städtebaulich präzisen Setzung, die sich an der Silhouette der historischen Häuser orientiert, reiht sich der stattliche Bau harmonisch ins bestehende Dorfgefüge ein. Die bei den alten Zweckbauten der Gegend übliche Mischbauweise ist hier zeitgemäss variiert: Über einem betonierten Sockel erhebt sich eine Holzständerkonstruktion, kompakt umhüllt mit einer streifenartigen Schalung aus sich überlappenden senkrechten Fichtenholzbrettern. So wird das schlichte Gebäude subtil akzentuiert. Die prägnante Staffelung des langen Pultdachs stellt den Bezug her zu den terrassenförmig angelegten Gärten im gegenüberliegenden Hang – und führt sanft über zum abschüssigen Ufer des nahen Flusses.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Heinz Wirz (Hrsg.): Armando Ruinelli + Partner (De aedibus, Bd. 46), Luzern 2012 (Nott Caviezel: Einfach komplex, S. 8–22; Schreinerei Spino, S. 34–37).

34 — Kraftwerkzentrale, Zervreila

  • Der wuchtigen Massivität und Schwere der geschwungenen Staumauer aus Beton ist die flächige, dünn und leicht erscheinende Architektur der Zentrale entgegengesetzt. Im gestalterisch hervorgehobenen Kopf des Gebäudes befinden sich der Eingang, die Werkstatt, das Büro und die Angestelltenwohnung (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die maschinellen Einrichtungen sind im geschlossenen hinteren Teil des Hauses untergeracht; die Tragkonstruktion des Gebäudes, ein Betonrahmengerüst, ist in der Maschinenhalle offen sichtbar (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die spielerisch-leichte Wirkung der  Betonrahmenkonstruktion wird durch die rasterartige Auflösung der Hauptfassade sowie die Knicke in der Seitenwand und im weit vorkragenden Flugdach betont (in: Kraftwerke Zervreila, St. Gallen 1959).

  • Im Schatten der monumentalen Bogengewichtsmauer vermag sich die verhältnismässig kleine Zentrale als ästhetisch anspruchsvolle Industriearchitektur zu behaupten (in: Kraftwerke Zervreila, St. Gallen 1959).

Bauaufgabe Kraftwerkbau Adresse Zervreila 230, 7132 Vals Bauherrschaft Kraftwerke Zervreila AG Planer Iachen Ulrich Könz Bauzeit 1958

Als kahle Betonwand präsentiert sich die mächtige Bogengewichtsmauer des Zervreila-Stausees, der zuhinterst im Valsertal 100 Millionen Kubikmeter Wasser zur Stromgewinnung fasst (Objekt 11). Ein kühnes Ingenieurbauwerk, das in seiner gestalterischen Reduziertheit eine ganz eigene ästhetische Wirkung zu entfalten vermag. Am Fusse dieses kolossalen Baus, der rund 150 m in die Höhe ragt, setzt die Kraftwerkzentrale einen kontrapunktischen Akzent: klein statt gross, flächig-leicht statt monolithisch-schwer, elegant statt roh, heiter-beschwingt statt gravitätisch-streng. Aus diesem dialektischen Bezug nährt sie ihre kraftvolle Präsenz. Mit seinen «papierig» dünnen Wandscheiben und dem weit auskragenden Flugdach erscheint das Gebäude, eine moderne Betonrahmenkonstruktion, fast schwerelos. In einer dynamischen Vorwärtsbewegung orientiert es sich von der Mauer weg, quasi vom Schatten zur Sonne hin: Mit seinem trichterförmig ausgeweiteten, durch eine rasterförmig aufgelöste Glasfassade abgeschlossenen Kopfteil öffnet es sich zum Tal. Die abgewinkelten Flächen von Seitenwand und Dach verzerren die perspektivische Wirkung des Baus und lassen ihn grösser erscheinen, als er in Wirklichkeit ist.

Entworfen hat das filigrane Haus der in Guarda ansässige Iachen Ulrich Könz (1899–1980), ein gemeinhin als «Regionalist» betitelter Architekt, der in seinem Werk nach einer Synthese zwischen regionaler Bautradition und internationalen Strömungen suchte. Mit ihrer Minimalisierung in Form und Material steht seine Zervreiler Zentrale allerdings ganz im Zeichen der Moderne – getreu dem Diktum von ETH-Professor Hans Hofmann (1897–1957), wonach «ein Kraftwerk als Bauaufgabe unserer Zeit eine eigene Formensprache haben müsse und nicht etwa – in einem zwar gut gemeinten, aber missverstandenen Heimatschutz – Formen von ortsüblichen Bauweisen übernehmen dürfe.» Hoffmann hatte 1953/54 in Birsfelden eine Ikone des modernen Kraftwerkbaus geschaffen, deren Einfluss sich auch in der feinen Detaillierung des Könz’schen Baus erkennen lässt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Jürg Ragettli: Architektur der Nachkriegsmoderne als denkmalpflegerische Aufgabe, in: Kunst + Architektur in der Schweiz, 55(2004), Heft 4 (1960–1980: ein Erbe), S. 48–55, hier. S. 53/54; Leza Dosch: Kunst und Landschaft in Graubünden. Bilder und Bauten seit 1780, Zürich 2001, S. 349–352; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 334, S. 93; Conradin Clavuot, Jürg Ragettli: Die Kraftwerkbauten im Kanton Graubünden. Chur 1991, S. 140–145; Hans Hofmann: Kraftwerk Birsfelden, in: Werk 2/1957, S. 38–48, hier S. 43.

33 — Atelierhaus Obrist, St. Moritz

  • Als Bau «ohne Schminke» bietet das Atelierhaus im mondänen Kurort ein ungewohntes Bild (© Ralph Feiner, Malans).

  • Das Atelierhaus besticht durch seine reduzierte Formensprache und die ausgewogenen Proportionen (in: Schweizer Architekturführer 1920–1990, S. 89).

  • Die Betonsästhetik bestimmt auch das Innere des Baus; Blick ins Treppenhaus (in: Hannes Ineichen. Robert Obrist, S. 28).

  • Maisonette mit Wendeltreppe (in: Hannes Ineichen. Robert Obrist, S. 33).

Bauaufgabe Wohnungsbau, Atelier Adresse Via Aruons 10, 7500 St. Moritz Bauherrschaft Robert und Heidi Obrist Planer Robert Obrist & Partner Bauzeit 1970–1972

Robert Obrist (1937–2018) war zeit seines beruflichen Lebens eine wichtige Figur im Bündner Architekturbetrieb. Als Architekt vieler öffentlicher Gebäude, als Raumplaner und als politisch engagierter Bürger, der sich effektiv für baukulturelle Belange einzusetzen wusste. 1963 war der gebürtige Aargauer nach St. Moritz übersiedelt, wo er ein etabliertes Architekturbüro hatte übernehmen können. Mit dem 1968 eröffneten Hallenbad, das er gemeinsam mit Alfred Theus errichtete, konfrontierte er den mondänen Kurort mit einer ungeschminkten Nachkriegsmoderne corbusianischen Gepräges (abgebrochen 2010). Dieselbe Baugesinnung bestimmt auch das Wohn- und Atelierhaus, das sich der noch nicht 35-jährige Obrist am Osthang zwischen den Ortsteilen Dorf und Bad erbaute: ein provokant selbstbewusster Bau mit Flachdach und Sichtbeton, der in starkem Kontrast zu der in Tourismusorten üblichen Klischee-Bauweise steht. Die grosszügige Architektur zeigt eine Nähe zu Bauten von Otto Glaus (Objekt 29), in dessen Büro Obrist gearbeitet hatte und mit dem zusammen er 1970/71 das Hallenbad im Hotel Waldhaus in Sils Maria entwarf.

Vor den Hang gestellt erhebt sich der wohl proportionierte, scharfkantige Kubus mit seiner puristischen Betonästhetik fünfgeschossig über einem rechtwinkligen Grundriss. Die Hanglage wird durch die Rückstaffelung der Etagen thematisiert. Die Abstufung belebt und bricht das Blockhafte des mächtigen Gebäudes, das neben dem zweistöckigen Atelier mit zugeordneter Maisonette acht Mietwohnungen unterschiedlicher Grösse umfasst. Der auf dem Gedanken einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft von Architekten basierende Bau ist mit seiner flexiblen inneren Struktur auch typologisch interessant: ein Haus der Durchlässigkeit und des Ineinandergreifens von Wohnen und Arbeiten, das sich wechselnden Bedürfnissen anzupassen vermag, mit mehreren Eingängen, unterschiedlichen Vertikalerschliessungen und horizontalen Verbindungen über Flure und Terrassen. Ein Haus, das die soziale Umbruchstimmung der Zeit reflektiert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Hannes Ineichen (Hrsg.): Robert Obrist. Bauten, Projekte und Planungen 1962–2002 (Monografien Schweizer Architekten und Architektinnen, Schriftenreihe Bd. 6), Blauen 2002, S. 28–33; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 326, S. 89.

32 — Schulhaus Herold, Chur

  • Die einzelnen Pavillons werden mit gedeckten Laubengängen verbunden. Deren filigrane Stahlstützen unterstreichen zusammen mit den hofbildenden Lamellenwänden die luftige Leichtigkeit der Anlage (© Ralph Feiner, Malans).

  • Flugaufnahme 1970. Als «Schuldörfchen» wurde die angrenzend an eine Einfamilienhaussiedlung der Vierzigerjahre entstandene Pavillonschule bei ihrer Eröffnung charakterisiert (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Werner Friedli).

  • Die Anlage bietet ein räumlich abwechslungsreiches Gesamtbild (© Alberto Flammer, in: Th. und Th. Domenig. Die Stadt. Die Architekten. Die Bauten, Chur 1995, S. 181).

  • In den Spielhöfen zwischen den Pavillons setzen als Skulpturen ausgebildete Brunnen gezielte Akzente (© Alberto Flammer, in: Th. und Th. Domenig. Die Stadt. Die Architekten. Die Bauten, Chur 1995, S. 181).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Ringstrasse 50, 7000 Chur Bauherrschaft Stadt Chur Planer Thomas und Thomas Domenig Bauzeit 1958/59 (energetische Sanierung und Erweiterung 1999/2000)

Das im Pavillonsystem errichtete «Herold» in Chur ist das architektonisch interessanteste Schulhaus der Fünfzigerjahre in Graubünden. Bei seiner Eröffnung 1959 wurde es von den regionalen Medien als eine «moderner Architektur gehorchende, kühne Schulhausanlage» apostrophiert. Das Bauwerk markiert den Einstieg des frisch gebackenen ETH-Absolventen Thomas Domenig jun. (*1933) ins väterliche Architekturbüro, das unter seiner Ägide zu Churs dominierendem Bauimperium avancierte (Objekt 20).

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Schweiz intensiv über eine Modernisierung des Schulbaus debattiert worden; dies im Rahmen einer pädagogischen Reform, welche die Bedürfnisse der Kinder in den Fokus stellte. Zahlreiche Publikationen nahmen sich des Themas an. 1953 fand im Zürcher Kunstgewerbemuseum die Ausstellung «Das neue Schulhaus» statt, die innovative Beispiele aus Skandinavien, England und den USA als Vorbilder heranzog. Für die Unterstufe wurde die in verschiedene überschaubare Einheiten aufgegliederte «Pavillonschule» propagiert, da sie Rücksicht auf den kindlichen Massstab nimmt und eine intime, familiäre Atmosphäre schafft. Dieses Konzept hat Domenig in der Primarschule Herold gemäss den Forderungen der Zeit geradezu idealtypisch umgesetzt. Die ursprüngliche Anlage bestand aus sechs einstöckigen Klassenpavillons mit je zwei, bzw. drei zweiseitig belichteten Unterrichtsräumen, einem zweigeschossigen Trakt mit Aula, Abwartswohnung und Kinderhort sowie einer Turnhalle. Die schlichten, mit Ausnahme der Turnhalle streng nach Südosten orientierten Gebäude sind in lockerer Anordnung in ein geometrisches Raster eingeschrieben und mittels offener, gedeckter Verbindungsgänge zu einem räumlich abwechslungsreichen Gesamtkomplex mit grosszügigen Pausenhöfen zusammengefügt. Asymmetrische Schmetterlingsdächer geben den Häuschen das Gepräge von Zelten. Die grossflächigen Verglasungen, die hofbildenden Lamellenwände und die zierlichen Stahlstützen der Laubengänge tragen mit zur luftig-leichten Wirkung der Architektur bei, die ihrerseits den Anspruch an eine repressionsfreie Pädagogik unterstreicht.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 5; Neue Bündner Zeitung, 1.9.1959; Das neue Schulhaus (Wegleitung 199 des Kunstgewerbemuseums der Stadt Zürich), Zürich 1953.

31 — Sportzentrum, Davos Platz

  • Freizeitarchitektur mit hohem Anspruch; das dreiseitig geschlossene Volumen öffnet sich gegen Südwesten grossflächig zur Sonne (© Ralph Feiner, Malans).

  • Rückseitig reagiert das Gebäude mit einer eingeschossigen, kompakten Ausstülpung gegen die Ankunftsstelle (© Heinrich Helfenstein; gta Archiv / ETH Zürich).

  • Im Bereich der Tribünen tritt die Tragstruktur aus Beton sichtbar nach aussen (© Heinrich Helfenstein; gta Archiv / ETH Zürich).

  • Die grosszügigen Verglasungen hinter der Tribüne gewähren Einblick in die bunten Innenräume (© Heinrich Helfenstein; gta Archiv / ETH Zürich).

  • Das Restaurant im Erdgeschoss. Farbträger sind ausschliesslich hölzerne Elemente: Fensterrahmen, Türen, Wand- und Deckenpaneele für die Schallabsorption und die Verkleidung der Installationen (© Heinrich Helfenstein; gta Archiv / ETH Zürich).

Bauaufgabe Öffentlicher Bau Adresse Talstrasse 41, 7270 Davos Platz Bauherrschaft Kur- und Verkehrsverein Davos Planer Gigon Guyer Architekten Bauzeit 1993–1996 (Umbau innen 2007–2009)

Es war eines der seltenen Denkmäler des Neuen Bauens in Graubünden, das von Rudolf Gaberel (1882–1963) entworfene Eisbahnhaus von 1934: ein quer in die Talsohle von Davos eingeschobener Riegel aus Holz, kubisch geformt und mit einem langgezogenen Tribünentrakt zur damals «grössten Natureisbahn Europas» orientiert. 1991 wurde es durch Brandstiftung zerstört. Mit dem an seiner Stelle errichteten Sportzentrum erwiesen Annette Gigon (*1959) und Mike Guyer (*1958) dem signifikanten Vorgänger ihre Reverenz. Der neue Bau war eine zeitgenössische Antwort auf die Tradition der Davoser Sanatoriums-Architektur mit ihren charakteristischen Flachdächern und durchlaufenden Veranden, in die auch Gaberels Entwurf sich eingeordnet hatte.

Der breit gelagerte, kompakte Baukörper, der dicht und effizient vielfältige Nutzungen zusammenfasst, behauptet sich trotz seiner feinen Schlichtheit souverän neben der grossen Eishalle mit ihrem wuchtigen Dach. Nach Nordosten bildet er den prägnanten Hintergrundprospekt für den Sportplatz, der sich im Winter jeweils zum «Eistraum» wandelt. Mit einer ausladenden, licht- luft- und sichtdurchlässigen Tribüne von zwei Geschossen öffnet sich das Gebäude nach Südwesten. Die Plattform hat auch die Funktion eines Sonnenbrechers, indem sie die dahinterliegenden, grossflächig verglasten Räume beschattet. Die hier sichtbar hervortretenden Betonpfeiler verweisen auf die Tragstruktur des Hauses, die ansonsten gänzlich von einem hölzernen Kleid ähnlich zweier sich überlagernder Zäune umschlossen wird. Die innere Lattung aus gehobeltem Tannenholz ist nach einem Farbkonzept des Künstlers Adrian Schiess orange, blau und gelb gestrichen. Darüber liegt, durch horizontale Eisenprofile auf Distanz gehalten, ein transparenter Rost aus rohem Lärchenholz, der den bunten Anstrich der tieferen Fassadenschicht dezent hindurchschimmern lässt. Unaufdringlich wird so die farbige Welt des Sports zelebriert. Die Polychromie setzt sich, um sechs Töne erweitert, in den Innenräumen fort, wo die bemalten Flächen mit den roh belassenen oder verputzen Betonwänden kontrastieren.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Köbi Gantenbein, Jürg Grassl, Philipp Wilhelm: Bauen in Davos. Ein Führer zu historischer und zeitgenössischer Architektur, Zürich 2019, S. 76/77; Gute Bauten in Graubünden 2001 (BVR-Informationen 2/01, Sonderheft), hrsg. vom Bündner Heimatschutz und der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 2001; Gigon Guyer Architekten. Arbeiten 1989 bis 2000, hrsg. von J. Christoph Bürkle, Sulgen/Zürich 2000, S. 43–67; Stefanie Wettstein: Zwischenraum hindurchzuschauen. Neubau Sportzentrum Davos 1996, in: archithese 2.97, S. 50–55.

30 — Ensemble Caminada, Vrin

  • In der von Caminada massgeblich geprägten Ortsplanung wurde für die Aussiedlerställe unterhalb der Kirche eine spezielle Zone ausgeschieden. Die geschlossene Baugruppe stärkt den Dorfrand statt ihn zu verzerren. Für die vorbildliche Einordnung neuer Landwirtschaftsgebäude ins Dorfbild erhielt Vrin 1998 den renommierten Wakkerpreis (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die zwei grosse Stallbauten (1994 und 1997) und die genossenschaftliche Metzgerei (1998/99) sind präzis entlang einer Hangkante aufgereiht. Mit ihren Pultdächern schmiegen sie sich bescheiden an den Hang. Das Schlachthaus (vorne) zeichnet sich gegenüber den benachbarten Ställen durch einen mächtigen Bruchsteinsockel aus (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die exponiert an die Hangkante platzierte Mehrzweckhalle von 1996 setzt am oberen Dorfrand von Vrin einen starken Akzent. Wie ein Brückenpfeiler führt der auf einem massiven Betonsockel verankerte Holzbau die 1963 erstellte Schulhausanlage talwärts fort (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der festliche Innenraum der Mehrzweckhalle wurde dank einer von Ingenieur Jürg Conzett erfundenen Binderkonstruktion möglich, die von Robert Maillarts Magazzini Generali (1924/25) in Chiasso inspiriert ist (© Lucia Degonda, Zürich).

  • Neuer Verbindungsbau zwischen bestehenden Ställen (© Martin Tschanz, Zürich).

  • Haus Caviezel, erbaut 1995. Die siedlungsbaulich sorgfältig integrierten Bauten sind von Kargheit und konstruktiver Sorgfalt bestimmt (© Lucia Degonda, Zürich).

  • Haus Caminada, erbaut 2000. Als Holzbauer hat Gion A. Caminada der traditionellen Bauweise des Strickbaus neue Impulse verliehen; seine Gebäude knüpfen an die Tradition an, ohne sie zu kopieren oder zu verniedlichen (© Lucia Degonda, Zürich).

Bauaufgabe Wohnbau, Landwirtschaftsbau, Gewerbebau, Öffentlicher Bau Adresse 7149 Vrin Bauherrschaft Diverse Planer Gion A. Caminada Bauzeit ab 1990

Vrin – in diesem abgelegenen Bergbauerndorf zuhinterst in der Val Lumnezia hat Gion A. Caminada (*1957) Architekturgeschichte geschrieben. Als gelernter Schreiner war er von dort nach Zürich gegangen, zur Weiterbildung an der Kunstgewerbeschule und an der ETH. Und dann in seine Heimat zurückgekehrt, um vorzumachen, was hochstehende Architektur auch sein kann: eine soziale Aufgabe, politisch engagiert, demokratisch verankert und akzeptiert. Mit dieser Arbeit hat er internationale Bekanntheit erlangt und Vrin zum bewunderten Vorbild für eine qualitätsvolle Dorfentwicklung gemacht.

Ausgangspunkt seiner Tätigkeit in Vrin war eine durchgreifende Reform der Landwirtschaft samt Melioration, die der einheimischen Bevölkerung eine Alternative zur Abwanderung bot. Den damit einhergehenden Wandel hat Caminada eng begleitet, als Architekt, Bauvorstand, Dorfplaner und Gestaltungsbeirat in Personalunion. Dem architektonischen Wildwuchs, von dem auch die Val Lumnezia nicht verschont geblieben ist, setzte er eine aus der Analyse des Ortes hergeleitete Architektur entgegen – ein kontextuelles Bauen, das neben formalen und städtebaulichen Aspekten auch gesellschaftliche und kulturelle Überlegungen miteinschliesst. Über ein Dutzend Neu- und Umbauten hat er allein im Dorf Vrin realisiert, ein Vielfaches mehr innerhalb der (inzwischen fusionierten) gleichnamigen Gemeinde: Wohnhäuser, Ställe, Gewerbebauten und öffentliche Gebäude von der Telefonzelle bis zur Mehrzweckhalle. Die Qualität seiner Eingriffe liegt einerseits in der konstruktiven und formalen Weiterentwicklung der regionstypischen Holzbauweise, die speziell die Möglichkeiten der lokalen Handwerker und Ressourcen berücksichtigt, anderseits in der behutsamen Ergänzung der überkommenen Dorfstruktur und im sensiblen Umgang mit der Landschaft. Caminadas Bauten sind, ohne ihre Entstehungszeit zu verleugnen, in den traditionellen Habitus von Dorf und Landschaft zurückgebunden – und erzielen gerade durch diese Zurückhaltung eine starke Wirkung. Es entsteht eine subtile Spannung zwischen Alt und Neu, die ein Bild der Kontinuität evoziert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bettina Schlorhaufer (Hrsg.): Cul zuffel e l’aura dado – Gion A. Caminada, Luzern 2018 (2., erw. Aufl.); Leza Dosch: Lernen von Vrin, in: werk, bauen + wohnen 3/2003, S. 70/71; Anna Meseure, Martin Tschanz, Wilfrid Wang (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Schweiz, München […] 1998, S. 296/297; Neues Bauen in den Alpen. Architekturpreis 1999, hrsg. von Christoph Mayr Fingerle, Basel […] 2000, S. 54–65; Gion A. Caminada, Jürg Conzett: Selbstverständlich Holz, in: archithese 5.95, S. 52–55.

29 — Konvikt, Chur

  • Im steilen Gelände unterhalb der Strasse nach Arosa erhebt sich das in drei Trakte gestaffelte Gebäude. Die kubische Verschachtelung der verschiedenen Gebäudeteile vereint sich in einer zusammenhängenden, monolithischen Bauskulptur (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die bis zu viergeschossigen Trakte türmen sich zu einer abgetreppten Baumasse mit insgesamt neun Niveaus. Die Gemeinschaftsräume sind durch grosszügige, von schlanken Sichtbetonstützen rhythmisierte Öffnungen von aussen ablesbar (Aufnahme 1973; © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid).

  • Der besondere architektonische Ausdruck des Konvikts beruht einerseits auf der freien Komposition der Baumassen … (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid).

  • … andererseits auf dem differenzierten Umgang mit dem Sichtbeton. Die Fassaden sind durch das Spiel zwischen schalungsrohen, gestockten und gewaschenen sowie glatten Oberflächen gekennzeichnet (Aufnahme 1973; © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid).

  • Sämtliche Öffnungen sind in die Betonmauern eingelassen, was die massive, plastische Wirkung des Gebäudes unterstützt (Aufnahme 1973; © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid).

  • Die Gemeinschaftsräume werden durch die angegliederten Terrassen in den Aussenraum erweitert. Der Ausblick ist in jedem Fall grandios (Aufnahme 1973; © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Josef Schmid).

  • Blick in den hallenartigen Aufenthaltsraum (© Werk 11/1969, S. 764).

     

  • Der grosse Essraum mit der originalen Möblierung (© Werk 11/1969, S. 764).

  • Die Schülerzellen wurden in Einer- und Zweierzimmer aufgeteilt. Alle Einzelheiten des Interieurs bis hin zu den eigens für das Wohnheim entworfenen Möbeln wurden vom Architekten aufeinander abgestimmt (© Werk 11/1969, S. 764).

  • Aus einem quasi barocken Gesamtgestaltungsbedürfnis heraus konzipierte Glaus das Konvikt als Gesamtkunstwerk. Selbst die Schülerzimmer sind mittels verschiedener Materialien durch und durch komponiert (© Werk 11/1969, S. 764).

Bauaufgabe Schülerwohnheim Adresse Arosastrasse 32, 7000 Chur Bauherrschaft Kanton Graubünden Planer Glaus & Lienhard Bauzeit 1967–1969

Otto Glaus (1914–1996) gehört zu den profiliertesten Schweizer Architekten der Nachkriegszeit. Kunsthandwerklich ausgebildet, praktizierte er ein Jahr lang im Pariser Atelier von Le Corbusier, bevor er an der ETH Zürich Architektur studierte. 1945 eröffnete er sein eigenes Büro. Seine Hoch-Zeit waren die Sechzigerjahre, in denen er mit einer Reihe skulpturaler Sichtbetonbauten hervortrat. Der Werkstoff Beton behagte ihm, da dessen konstruktive Eigenschaften ihm die freie kubische Gestaltung von Volumen und Innenräumen ermöglichten. Unter den plastisch betonten Bauten Glaus’ nimmt das Wohnheim der Bündner Kantonsschule eine herausragende Stellung ein.

Das markante Bauwerk, das wie eine Pueblosiedlung am steilen Hang südöstlich der Churer Altstadt «klebt», realisierte Glaus mit seinem damaligen Büropartner Hans-Rudolf Lienhard (1925–1974) auf der Grundlage eines Entwurfs, der 1964 siegreich aus einem zweistufigen Projektwettbewerb hervorgegangen war. An landschaftlich exponierter und städtebaulich sensibler Lage in Sichtweite des altehrwürdigen Bischofssitzes war eine nahezu autarke Wohnanlage für 100 Schüler zu errichten. Die gestalterische Hauptleistung des ausgeführten Projekts liegt in der bravourösen Einfügung des Gebäudes in das Landschaftsbild. Aus der Ferne wirkt der Komplex wie ein expressiv geformter Monolith, tatsächlich ist er in drei lange, hinter- und übereinander gestaffelte Flachdachtrakte aufgelöst. Durch Vor- und Rücksprünge passen sich die einzelnen Baukörper dem schroff abfallenden und konvex gewölbten Terrain an. Die Aufgliederung der Baumasse bricht deren Monumentalität und verhindert eine Konkurrenz zu den Baudenkmälern der näheren Umgebung. Der Sichtbeton trägt mit dazu bei, dass die Anlage wie aus dem Fels herauszuwachsen scheint; die nuancierte Behandlung der Oberflächen steigert die Wirkung des Materials. Glaus› Gestaltungsbedürfnis reichte auch im Innern bis ins Detail. Das mitsamt den selbst entworfenen Möbeln subtil differenzierte und harmonisch abgestimmte Interieur zeugte von der Konzeption des Hauses als Gesamtkunstwerk.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 17; Michael Hanak: Skulpturale Nachkriegsmoderne in Chur, in: Bündner Monatsblatt 1/2013, S. 65–98; Ueli Lindt: Glaus, Otto, in: Isabelle Rucki und Dorothee Huber (Hrsg.): Architektenlexikon der Schweiz. 19./20. Jahrhundert. Basel 1998, S. 223/224; Ueli Lindt: Otto Glaus, Architekt. Basel/Boston/Berlin 1995; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, S. 76; Konvikt der Kantonsschule in Chur GR, in: Das Werk: Architektur und Kunst, 11/1969, S. 762–764; Wettbewerb für den Neubau der Konviktes der Bündner Kantonsschule in Chur, in: Schweizerische Bauzeitung, 1964/Heft 43, S. 754–757.

28 — Kreisschule «Witiwäg», Churwalden

  • Die neu hinzugefügten Volumen der Kreisschule sind klassisch in Proportion und Gliederung zumindest, was die Kubatur und die Frontfassaden betrifft. An den eigenwilliger gestalteten Seitenfassaden der zwei Klassentrakte lassen sich die doppelgeschossigen Schulzimmer ablesen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Turnhalle erweckt den Eindruck einer Basilika, gleichzeitig lässt der durch die Obergaden-Fenster sichtbare Fachwerkträger an eine Fabrikhalle denken. Sachlich ist sie als lichtoptimiertes Volumen zu lesen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Rötlich-graubrauner Zementstein prägt die Fassaden (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick ins Innere der Turnhalle. Die unüblicherweise längs (statt quer) gespannten Fachwerkträger unterstützen die räumliche Wirkung (© Ralph Feiner, Malans).

  • Grosszügige und klar umrissene Anlage, Ansicht von Süden (© Archithese 1984/Heft 2, S. 51).

  • Technisch sinnvolles Ornament: An den Portiken nimmt ein Stahlbetonsturz den Seitenschub des darüberliegenden Zementsteinbogens auf und ermöglicht es, die Stützen schlank zu halten (© Archithese 1984/Heft 2, S. 52).

  • In den neuen Klassentrakten erschliesst ein Gang die hangabwärts angegliederten, doppelgeschossigen Werkraum-Klassenzimmer-Kombinationen; Blick auf die Reihe der Gruppenarbeitsräume, von denen man jeweils ins höher gelegene Klassenzimmer gelangt (© Archithese 1984/Heft 2, S. 54).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Witiwäg 17, 7075 Churwalden Bauherrschaft Kreisschulverband Churwalden/Malix/Parpan Planer Atelier Peter Zumthor Bauzeit 1979–1983

Die Erweiterung der Kreisschule in Churwalden war der erste Wettbewerbserfolg Peter Zumthors (*1943) und sein erstes grösseres Projekt. Im Anschluss an die Nachkriegsmoderne kündigte sich hier eine neue Architekturära an. In der geometrischen Strenge der Anlage und der klassisch-rationalen Architektur zeigt sich der Einfluss der «Tessiner Tendenza». Gleichwohl ist die eminent städtebaulich inspirierte und pädagogisch engagierte Intervention ein eigenständiges Werk, das von Zumthors früher Könnerschaft zeugt, feinfühlig auf eine bestehende Situation zu reagieren und gängige Typologien sinnvoll zu modifizieren.

Die Aufgabe war, das alte Schulhaus von 1959, das aus einem 65 m langen, in Hangrichtung gelegten Hauptbau und einem hangparallelen Nebenbau bestand, mit einem beachtlichen Raumprogramm zu ergänzen. Statt dem T-förmigen Gebilde einen kompakten Solitär hinzuzufügen, setzte Zumthor auf eine pavillonartige Aufteilung der Baumasse, um alt und neu zu einem in sich geschlossenen vielfältigen Ganzen zu formen, das im unbestimmten Dorfgefüge von Churwalden einen einprägsamen öffentlichen Ort schafft. So wurde die bestehende Anlage zum Ausgangspunkt einer sich den Hang hinaufziehenden Gebäudestaffel; sie kulminiert im grossen Volumen der Turnhalle, die das Bild einer frühchristlichen Basilika evoziert. Jedes Gebäude bezieht sich mit einem Portikus auf einen ihm vorgelagerten Platz. Die abgetreppte Folge von Bauten und Platzterrassen zeichnet die Neigung des grossen Schuttkegels des Wititobels nach, auf dem das Schulhaus steht – und stellt den Bezug her zum nahen Bach mit seinem kaskadenartigen Bett. Die neuen Schultrakte nutzen das Gefälle für eine pädagogisch innovative Behausung der Klasseneinheiten: Jede Klasse verfügt über ein eigenes kleines «Heim» von zwei Geschossen. Es umfasst einen galerieartigen Schulraum unter dem Dach mit zugehörigem Aussenhof und Garten, sowie einen Gruppenraum ein Stockwerk tiefer, der mit einer verglasten Front an den durchlaufenden Korridor anschliesst – ein offenes und räumlich grosszügiges Konzept, das die Trennung von Werk- und Schulräumen hinterfragt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Palle Petersen: Zumthor vor Zumthor, Wahlfacharbeit am gta der ETHZ, 2013 (Typoskript), S. 76–83; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 310, S. 77; Peter Disch: Architektur in der Deutschen Schweiz 1980–1990. Ein Katalog und Architekturführer, Lugano 1991 (2. Aufl.), S. 264; Schulhauserweiterung in Churwalden, in: Schweizer Ingenieur und Architekt 6/1980, S. 98–100; Otti Gmür: Schulhauserweiterung in Churwalden GR, in: Archithese 1984/Heft 2, S. 50–57.

27 — Lavoitobelbrücke, Tamins

  • Als Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Ingenieur und Künstler entstand an landschaftlich exponierter Lage eine höchste eigenwillige Brückenskulptur (© Ralph Feiner, Malans).

  • Aus der Froschperspektive wird die skulpturale Qualität des Bauwerks besonders deutlich (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Brücke im Bau (www.meichtry-widmer.ch/Projekt/102).

  • Zusammen mit der nahe gelegenen Rheinbrücke von Christian Menn gehört die Lavoitobelbrücke zu den besten Repräsentanten des schweizerischen Brückenbaus der 1960er-Jahre (Max, Binia + Jakob Bill Stiftung, Adligenswil).

  • «Ich glaube, wenn ich heute noch wählen könnte, ich möchte möglichst viele Brücken bauen zusammen mit den kompetenten Fachleuten: Denn hier ist das Nützliche mit dem Technischen und mit der Umwelt in harmonischem Gleichgewicht» (Max Bill, 1976; Foto: www.meichtry-widmer.ch/Projekt/102).

  • Die Fahrbahnplatte wurde in vorgespanntem Stahlbeton ausgeführt, einer sehr wirtschaftlichen und hochwertigen Lösung zwischen normalem Stahlbeton und teilweiser Vorspannung (www.meichtry-widmer.ch/Projekt/102).

Bauaufgabe Brücke Adresse Kantonsstrasse H19, 7015 Tamins Bauherrschaft Kanton Graubünden Planer Max Bill, Mirko Robin Roš Bauzeit 1966/67

Er war einer der bekanntesten Abgänger der legendären Bauhaus-Schule und ein künstlerischer Tausendsassa: Max Bill (1908–1994), Bildhauer, Maler, Grafiker, Designer und Architekt. Der «Schönheit der Reduktion» galt sein Augenmerk. Ein besonderes Interesse entwickelte Bill auch für die Ästhetik des Brückenbaus. Speziell die «eleganten neuartigen Bogenbrücken» Robert Maillarts (1872–1940) hatten es ihm angetan. Während des Zweiten Weltkriegs fotografierte er sie; 1949 erschien seine Monografie über den Schweizer Eisenbetonpionier.

Die Beschäftigung mit Maillart weckte in Bill den Wunsch, selbst einmal eine Brücke zu entwerfen. Gelegenheit dazu erhielt er, als ihn Mirko Robin Roš (1912–1968) vom Zürcher Ingenieurbüro Aschwanden & Speck für den Entwurf der Brücke über das Lavoitobel bei Tamins beizog – ein grosses Bauwerk in exponierter Lage, dorfnah und eminent fernwirksam. Aus der Zusammenarbeit zwischen Künstler und Ingenieur entstand eine faszinierende Betonskulptur, die im Brückenbau eine fast provokant eigenwillige Meisterleistung darstellt. Die experimentell wirkende Konstruktion, die hochschlanke Pfeiler mit leicht gekrümmten, nach unten gespreizten Streben kombiniert, sollte Bill später als eine seiner «glücklichsten Realisationen» bezeichnen.

Konstruktiv ist das einzigartige Tragwerk ein Zwitter zwischen klassischer Bogenbrücke (Objekt 13) und Sprengwerk (Objekt 02). «Seinerzeit wurde mir das Problem gestellt», erinnerte sich Bill, «einen das Tal überspannenden Bogen so mit der Fahrbahnplatte zu verbinden, dass keine formalen Mängel auftreten. Für den Scheitelpunkt hatten die Ingenieure keine befriedigende Lösung gefunden. Ich verwarf das Konstruktionsprinzip der Bogenbrücke und schlug das später realisierte Konzept vor, das nach Fertigstellung der Kalkulationen mit meinen Vorstellungen genau übereinstimmte.» Die ausserordentliche Feinheit, die das Bauwerk charakterisiert, wurde durch die Vorspannung des Fahrbahnträgers möglich. Die expressive Spreizung der Streben ist auch statisch relevant: Mit ihr wird eine gute Seiten- und Windstabilität erreicht.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Kunst und Landschaft in Graubünden. Bilder und Bauten seit 1780, Zürich 2001, S. 345; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, S. 72/73; Max Bill: Bauen als Teil der gestalteten Umwelt, in: DU, 1976 (Heft 424), S. 65–69, hier S. 66–68.

26 — Fermata Dogana, Castasegna

  • Ein Meisterstück der Pavillon-Architektur, das mit einfachen konstruktiven und architektonischen Mitteln eine expressiv-poetische Wirkung erzielt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Mit der roten Farbe, der vorfabrizierten Konstruktion, der Materialisierung in Aluminiumblech und der besonderen Situierung hebt sich der Zollpavillon pointiert von seiner Umgebung ab (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Zollgebäude Adresse Via Principale 4, 7608 Castasegna Bauherrschaft Eidgenössische Zolldirektion Planer Bruno Giacometti Bauzeit 1958/59

Am Dorfausgang des Grenzortes Castasegna, unweit der Werksiedlung Brentan (Objekt 18), baute Bruno Giacometti (1907–2012) Ende der Fünfzigerjahre im Auftrag des Bundes eine Zollstation als freistehenden Solitär. Während die zeitgleich entstandenen Häuser der Wohnkolonie die Anpassung an den Bestand suchen, hebt sich das Zollhäuschen pointiert von seiner Umgebung ab. Es präsentiert sich als ein Exponat modernster Schweizer Architektur ohne den geringsten Hauch einer regionalistischen Tendenz. Souverän behauptet sich der feingliedrige Bau gegenüber dem spätklassizistischen Zollhaus auf der anderen Strassenseite, dessen gravitätischer Strenge er mit einer frivol anmutenden Leichtigkeit begegnet. Der elegante Pavillon, ein Staatsbau im Kleinformat, bringt eine beschwingte Note ins Grenzareal. Er repräsentiert ein Land im Aufbruch, fortschrittsgläubig und zukunftsorientiert, kulturell und technisch auf der Höhe der Zeit.

Die signalhaft rot gefärbte polygonale «Box» steht am abfallenden Strassenrand und kragt effektvoll über die Hangkante hinaus. Das Gebäude gilt als erstes Beispiel eines vorfabrizierten Baus im Bergell. Eine Plattform aus armiertem Sichtbeton bildet das solide Fundament für eine Holzrahmenkonstruktion, die mit Paneelen aus emailliertem Aluminium umhüllt ist; das industriell hergestellte Metall hatte im Zuge der Rationalisierung des Bauwesens nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Weg in die Architektur gefunden. Das überstehende flache Dach – eine Miniversion des weitgespannten Stahltragwerks, das Giacometti als Mitarbeiter Karl Egenders für das Zürcher Hallenstadion (1938/39) mitentworfen hatte – wird von lediglich vier filigranen Stahlstützen getragen. Es scheint über dem Gebäude zu schweben – eine Wirkung, die der rundumlaufende Fries aus transparentem Glas zusätzlich betont. Mit Holz ausgekleidet, verströmt der Raum im Innern eine Atmosphäre gediegener Behaglichkeit.

Seiner ursprünglichen Funktion entledigt, dient die von Armando Ruinelli (*1954) subtil restaurierte ehemalige Zollstation heute als Bushaltestelle und als Raum für kulturelle Nutzungen.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bruno Giacometti erinnert sich. Gespräche mit Felix Baumann. Mit einem Werkverzeichnis von Roland Frischknecht, Zürich 2009, S. 122/123; Carmelia Maissen: Repräsentation der Öffentlichkeit. Bruno Giacomettis öffentliche Bauten in Graubünden, und Armando Ruinelli: Die Restaurierung der Gebäude von Bruno Giacometti […], in: Bruno Giacometti, Architekt (Beiheft Bündner Monatsblatt), Chur 2008, S. 66–77 bez. 142–149.

25 — Handelsgärtnerei Urech, Chur

  • Der breitschultrige Bau ist an den Rand der Parzelle gerückt, was die Ausscheidung einer grossen kompakten Fläche für den Pflanzmarkt ermöglichte (© Ralph Feiner, Malans).

  • Den Hauseingang an der Rückseite des Hauses ziert das Einzelelement des von Olgiati so geliebten Korbbogens. Die Autogaragen werden als serielles Ornament von einem knappen Vor- und einem Flachdach begleitet (© Ralph Feiner, Malans).

  • Zur Heroldstrasse hin markieren zwei massige Säulen den Eingang zum Ladenlokal (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Handelsgärtnerei kurz nach ihrer Fertigstellung (Boga: Die Architektur von Rudolf Olgiati, S. 201).

Bauaufgabe Wohn- und Geschäftshaus Adresse Heroldstrasse 25, 7000 Chur Bauherrschaft Otto Urech Planer Rudolf Olgiati Bauzeit 1972/73

In Rudolf Olgiatis (1910–1995) singulärem Werk (Objekt 06) nimmt die Handelsgärtnerei Urech eine Sonderstellung ein. Sie gehört zu den seltenen grossvolumigen Bauwerken des Architekten, dessen Oeuvre vornehmlich Einfamilienhäuser – meist Zweitwohnsitze – umfasst. Das für einen Gärtnereiunternehmer errichtete Gebäude enthält neben zwei Studios drei Vier- und vier Dreizimmerwohnungen und integriert im Erdgeschoss zudem ein geräumiges Ladenlokal. Speziell ist beim Haus Urech auch seine Lage in einer städtischen Agglomeration, baute Olgiati doch vornehmlich im ländlichen Raum. Die Handelsgärtnerei steht in der Churer Rheinebene, wo kleinteilige Wohnsiedlungen und Einzelhäuser das Ortsbild prägen. Anders als in seinem Hauptarbeitsgebiet in und um Flims begegnete Olgiati hier keiner modulierten Bergsturzlandschaft, sondern einem flachen Grundstück ohne herausragende landschaftliche Qualität. Auf diese unbestimmte Situation reagierte er mit der grossen Geste eines monumentalen Giebelbaus, der, nicht zuletzt auch hinsichtlich seiner grandiosen Wirkung, an frühneuzeitliche Doppelhäuser im Engadin erinnert. Ohne Sockel unvermittelt aus dem Boden aufsteigend, treten die glatten, weiss gekalkten Fassaden als Mauerschalen über das Dach hinaus; sie veranschaulichen Olgiatis Vorstellung vom Haus als Einfriedung, die gegen eine als unwirtlich empfundene Aussenwelt ein geborgenes Inneres abgrenzt. Die Mauern sind mit frei gesetzten Fenstern individueller Grösse und Ausformung sowie tief eingeschnittenen Loggien plastisch durchformt, ohne dass die Einheit der Schale zerstört würde. Das optisch unterdrückte Dach wird durch die harten Kuben der Schornsteine akzentuiert. An der Rückseite markiert ein Korbbogen den Durchgang zum privaten Wohnbereich. Dahingegen betonen Säulen – in Olgiatis Verständnis «die optische Fixierung eines wichtigen Punktes» – den öffentlichen Bereich: Strassenseitig flankieren zwei massige Exemplare den Eingang des Ladenlokals, während an der breiten Ostfassade ein Portikus mit vier kräftigen Säulen und keckem Blechdach den Ausgang zum Pflanzenmarkt artikuliert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 19; Ursula Riederer: Rudolf Olgiati. Bauen mit den Sinnen, Chur 2004, S. 146/147 und S. 260–205; Rudolf Olgiati, Architekt. Eine Streitschrift, Stuttgart 1994; Thomas Boga (Hrsg.): Die Architektur von Rudolf Olgiati. Zürich 1983 (3., erw. Aufl.), S. 200–205.

24 — Kirchner Museum, Davos Platz

  • Die Architekten haben darauf verzichtet, für das Kirchner Museum eine dem Expressionismus nachempfundene Sprache zu entwickeln; ihr Bau ist von eleganter Askese geprägt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Säle vermitteln das Gefühl ungestörter Konzentration auf die ausgestellten Werke (© Ralph Feiner, Malans).

  • Im Erschliessungsraum ist Beton das bestimmende Material. Mit seinen glatt geschalten Böden, Wänden und Decken erinnert der Flur an eine Skulptur der minimal art (© Heinrich Helfenstein, in: Werk, Bauen + Wohnen 1992/Heft 12).

  • Mit seinen luziden Glaskörpern ist die Anlage  gewissermassen eine Abstraktion der flach gedeckten Baukuben von Davos. In diesem Sinne ist das Kirchner Museum ein Bau, der sich mit besonderer Noblesse in die Baukultur des Ortes integriert (© Heinrich Helfenstein, in: Werk, Bauen + Wohnen 1992/Heft 12).

  • Ansicht von Nordosten (© Heinrich Helfenstein, in: Werk, Bauen + Wohnen 1992/Heft 12).

  • Ansicht von Süden (© Heinrich Helfenstein, in: Werk, Bauen + Wohnen 1992/Heft 12).

Bauaufgabe Museum Adresse Promenade 82, 7270 Davos Platz Bauherrschaft Ernst Ludwig Kirchner Stiftung, Davos Planer Gigon Guyer Architekten Bauzeit 1991/1992

Gegenüber dem imposanten Grand Hotel «Belvédère» positioniert sich das Kirchner Museum an der Promenade von Davos als selbstbewusster Solitär; vornehm ruhig entfaltet es am Rande eines kleinen, baumbestandenen Parks majestätische Präsenz. Das Haus ist dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) gewidmet, der in Davos die letzten 20 Jahre seines Lebens verbrachte. Ausgehend von einem geladenen Wettbewerb ist den jungen Zürcher Architekten Annette Gigon (*1959) und Mike Guyer (*1958) mit ihrem ersten grossen Projekt ein international rezipiertes Werk gelungen: Das Kirchner Museum gilt als wegweisend für eine neue Auffassung in der Museumsarchitektur, die frei von pompösem Pathos architektonische Eigenwertigkeit und Dienst an der Kunst zu verbinden sucht.

Vier unregelmässig zueinander versetzte Ausstellungssäle bilden die Kernstücke des Baus, die als Referenzpunkt den klassischen Oberlichtsaal erkennen lassen. Es sind einfache, freundlich gestimmte Rechteckräume mit weisslich gestrichenen Wänden, Eichenparkett und gläsernen Decken, äusserst zurückhaltend gestaltet, um die Exponate nicht zu konkurrenzieren. Die streng voneinander separierten Kuben werden durch eine Zwischenzone aus Sichtbeton zum räumlichen Ganzen des Museums vereint – eine Wandelhalle von komplexer Gestalt, die einen eigenständigen Charakter aufweist und als Ort des neutralisierenden Spaziergangs zwischen den von der Kunst definierten Raumstimmungen fungiert. Im Kontrast zu den introvertierten Galerien gibt der verzweigte Flur durch breite Fensterfronten den Blick in die alpine Landschaft frei.

Nach aussen hin treten die Kunstpavillons als gleich hohe Kisten auf, welche die Erschliessungszone um das Doppelte überragen. Glas ist hier das bestimmende Material: Klarglas im Bereich der Verkehrsflächen, geschreddertes Altglas auf dem Dach. Rund um die Kunstsäle wiederum geätztes Isolierglas; im gemauerten unteren Bereich umhüllt es die Wärmedämmung, oben lässt es das Tageslicht in die Dachlaterne fallen, das durch die Mattgläser der Staubdecke hindurch die Ausstellungsräume natürlich erhellt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Gigon Guyer Architekten. Arbeiten 1989 bis 2000, hrsg. von J. Christoph Bürkle, Sulgen/Zürich 2000, S. 10–13; Anna Meseure, Martin Tschanz, Wilfrid Wang (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Schweiz, München […] 1998, S. 280/281; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994 (informationen 1/95, Sonderheft), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz, Chur 1995; Benedikt Loderer: Der Schrein von Davos, in: Hochparterre 5/1992, Heft 12, S. 14/15; Walter Zschokke: Kirchner-Museum, Davos, 1992, in: Werk, Bauen + Wohnen 1992/Heft 12, S. 24–29; Luzi [Leza] Dosch: Das Kirchner Museum in Davos, in: Bündner Monatsblatt 6/1992, S. 505–509.

23 — Centrale di energia elettrica industriale, Lostallo

  • Architektur und Volumetrie der Zentrale zeichnen sich durch eine einfache, klare und prägnante Gestaltung aus (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Tragkonstruktion des Gebäudes, ein Betonrahmengerüst, ist offen sichtbar (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Kraftwerk Adresse Rúra 2, 6558 Lostallo Bauherrschaft Elettricità Industriale SA Planer Carlo Basilico Bauzeit 1956–1958

Das Kraftwerk Lostallo gehört zu den kleineren Anlagen, die während des Grossausbaus der Wasserkräfte in Graubünden errichtet wurden. Es produzierte Strom für die Silicium-Fabrik in San Vittore, einer Zweigniederlassung der Monteforno SA, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Leventina bei Bodio ein gewaltiges Stahlwerk aufzubauen begann. Hausarchitekt der Monteforno war der Tessiner Carlo Basilico (1895–1966), ein erfolgreicher Dekorationsunternehmer, Publizist und ambitionierter Kunstmaler aus Chiasso, dem die Bekanntschaft mit dem Industriellen Luigi Giussani eine späte Karriere als Entwerfer von Hochbauten bescherte. Die von ihm konzipierte (und vom Ingenieur Giovanni Lombardi ausgeführte) Zentrale Lostallo, Basilicos bedeutendster architektonischer Entwurf, gehört zu den herausragenden Beispielen der progressiven Fünfzigerjahre-Architektur in Graubünden. Frei von jeglichen regionalen Bezügen, ist sie ganz dem Gedankengut der Moderne verpflichtet.

Die Zentrale steht isoliert zwischen Lostallo und Cabbiolo, auf der gegenüberliegenden Talseite, dicht an den Fuss des bewaldeten Berghangs gedrängt. Alle Räume des Komplexes sind in einem einzigen, 44 Meter langen Baukörper komprimiert. Von weithin sichtbar thront der langgestreckte Kubus auf einer künstlich aufgeschütteten Terrasse wie auf einem Podest: ein Schaustück aus farbig gefasstem Beton und Glas als eine Art moderner Schrein, das dem technischen Fortschritt ein Denkmal setzt. Auf frontale Wirkung angelegt, wendet sich der Bau – eine feingliedrige Betonrahmenkonstruktion – mit einer grosszügig verglasten Rasterfassade der Talebene zu. Die feierliche Klassizität und abstrakte Eleganz der Architektur unterstreichen den repräsentativen Anspruch des Industriegebäudes. Mit den dünnen Wandscheiben und der aufgelösten Fassade wirkt das grosse Bauvolumen fast schwerelos leicht. Zu diesem Eindruck trägt auch das weit auskragende Flachdach bei, das durch einen dunkel gestrichenen Wandrücksprung von den Aussenmauern abgehoben ist und so über dem Gebäude zu schweben scheint.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Conradin Clavuot, Jürg Ragettli: Die Kraftwerkbauten im Kanton Graubünden. Chur 1991, S. 156–161; Nicoletta Ossanna (Hrsg.): Carlo Basilico 1895–1966. Pittore, progettista e designer. Ausstellungskatalog Cinema Teatro, Chiasso, 1998, S. 70, tav. 60, scheda 488.

22 — Höhere Technische Lehranstalt HTL, Chur

  • Blick von Osten. Durch die Geometrie dreier differenzierter Baukörper wird das Schulgebäude in ein Verhältnis zu den heterogenen Aussenräumen der Umgebung gebracht (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die einzelnen Volumen sind einheitlich in ein Schuppenkleid aus Kupferplatten gehüllt; Blick auf den nördlichen Längstrakt (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die zenitale Lichtführung der zentralen Halle erfolgt über einen kassettenförmigen Trägerrost aus Sichtbeton, der gleichzeitig die Aufhängung eines verschiebbaren Wandsystems bildet (© Christian Kerez, Zürich).

  • Keine beliebig hingestellte Kiste, sondern bewusst komponierte Architektur (© Christian Kerez, in: Werk, Bauen + Wohnen, 80/1993, Heft 12, S. 49).

  • Der südliche Längstrakt nimmt die Cafeteria, die Verwaltung und – in den oberen Geschossen – eine Vielzahl von Unterrichtsräumen auf. Die Zimmer profitieren von der Aussicht auf den von hohen Eschen gesäumten «Churer Mühlbach» (© Christian Kerez, in: Werk, Bauen + Wohnen, 80/1993, Heft 12, S. 50).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Pulvermühlestrasse 57, 7000 Chur Bauherrschaft Verein Ingenieurschule HTL Planer Jüngling und Hagmann Bauzeit 1991–1993

Kaum hatten sie nach einer Anstellung im Atelier Zumthor ihr eigenes Büro gegründet, konnten die Architekten Dieter Jüngling (*1957) und Andreas Hagmann (*1959) ihren ersten Wettbewerbserfolg feiern – und in dessen Folge auch gleich einen kapitalen Bau errichten: die Ingenieurschule in Chur, die heute Fachhochschule Graubünden heisst. Das Haus gab einer seit 1963 bestehenden Institution eine Adresse, die sich zuvor auf diverse Örtlichkeiten verteilt hatte und daher physisch kaum in Erscheinung getreten war. Es wurde zu einem Vorzeigeobjekt der viel beachteten «neuen Bündner Architektur», deren Charakteristik man mit Begriffen wie «Askese», «Funktionalität der Sinnlichkeit» oder «Materialsensibilität» zu fassen suchte.

Das Grundstück der Schule liegt an der südwestlichen Umfahrung von Chur, dort, wo die Stadt ausfranst in breite Strassen, Gewerbebetriebe, Einkaufszentren und Autobahnanschlüsse. Im städtebaulichen Chaos der in Wildwest-Manier überbauten Umgebung setzt die bewusst komponierte Architektur einen starken Akzent. Aufgrund seiner formalen und materiellen Reduktion wirkt der Bau einfach und ruhig. Gerade dadurch aber macht er auf sich aufmerksam – wie es sich für ein öffentliches Gebäude gehört. Das Schulhaus ist aus drei differenzierten Kuben zu einer skulpturalen Einheit zusammengefügt. Rohe, industriell vorgestanzte Kupfertafeln sind in der Art eines Schuppenpanzers flächendeckend über den vieleckigen Baukörper gezogen. Das inzwischen dunkel patinierte Fassadenkleid verleiht dem Bau einen geheimnisvoll-gediegenen Touch – und den Eindruck hermetischer Abgeschlossenheit. Der Ort der Öffentlichkeit und Begegnung ist ins Innere verlegt, in die zentrale Halle, die zwischen die beiden lang gezogenen Unterrichtstrakte eingeschoben ist. Der stützenlose Raum von 800 m2 lässt sich durch ein raffiniertes System aus Hängewänden bis zum Vortragssaal verkleinern. Durch die Oberlichtbänder über dem geschosshohen Trägerrost aus Sichtbeton, der die riesige Halle überspannt, fällt diffuses Licht, das eine konzentrierte Raumstimmung erzeugt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bauen in Graubünden. Ein Führer zur Gegenwartsarchitektur, hrsg. vom Verlag Hochparterre, Zürich 1996, S. 34/35 und 2006 (3., erw. Aufl.), S. 28/29; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994 (informationen 1/95, Sonderheft), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz, Chur 1995; Jürg Graser: Eine Institution im Rheinquartier, in: Faces 34/35, 1995, S. VI/VII; Lutz Windhöfel: Im Zentrum: eine riesige Halle, in: Hochparterre 6/1993, Heft 12, S. 28/29; D.J., A.H., Red.: Heterogene Einheit, in: Werk, Bauen + Wohnen, 80 (1993), Heft 12, S. 49–53.

21 — Centro Scolastico Regionale «Ai Mondàn», Roveredo

  • Die Klassentrakte sind als Einbünder konzipiert; die Schulzimmer mit ihren verglasten Fronten sind nach aussen gerichtet, der Flur ist zum Innenhof hin orientiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Grosse, geschosshohe Fenster erhellen die Schulzimmer, die in regelmässiger Reihung auf zwei Stockwerke verteilt sind (© Ralph Feiner, Malans).

  • Vor dem Eingang stehen Platanen Spalier (Foto: Ludmila Seifert, Chur).

  • Das «Atrium» im Nordtrakt als Durchgang zwischen Aussenplatz und Innenhof; seitlich angeordnet die Treppenaufgänge (informationen 1/88 BVR).

  • Der Hof ruht abgeschieden von der Umgebung in der Mitte der Anlage (informationen 1/88 BVR).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Ai Mondàn 12, 6535 Roveredo Bauherrschaft Corporazione dei Comuni per la Scuola Secondaria di Valle Planer Fausto Chiaverio und Fausto Censi Bauzeit 1985–1987

«Für die Fähigkeit, dem Schulhaus öffentlichen Charakter zu verleihen und ihm Dimensionen zu geben, die den Bau von der aktuellen chaotischen baulichen Entwicklung abhebt, und dies mit einfachen und modernen Mitteln und mit Materialien, die ohne nostalgische Anlehnung verwendet wurden» – so begründete die Jury der Auszeichnung gute Bauten Graubünden 1987 ihren Entscheid, die Regionalschule in Roveredo in die kleine Gruppe der elf prämierten Bauwerke zu integrieren. Die starke Gewichtung des städtebaulichen Aspekts hat ihren Grund. Ordnung in der Unordnung schaffen, dies war offensichtlich die Devise, welche die Planung des Schulkomplexes bestimmte. In der schwierigen Peripherie des Dorfes, wo die Bebauung diffus in die Landschaft ausufert, bildet die klar umrissene, kompakte Anlage einen Bezugspunkt. Streng symmetrisch gegliedert ist das Bauwerk in die Mitte des Areals gestellt und so durch Freiflächen von den umliegenden Gebäuden isoliert. Die grosse axiale Geste steigert die Präsenz des monumentalen Baus. Er strahlt Ruhe aus, Grosszügigkeit und Gelassenheit.

Die nördliche Eingangsfront mit ihren Seitenrisaliten lässt sich als abstrahierte Form einer klassischen Schlossarchitektur lesen, der mit Platanen diszipliniert bepflanzte und von akkurat geschnittenen Hecken gesäumte Platz davor wirkt wie ein «Ehrenhof». Durch ein hallenartiges Treppenhaus gelangt man ins Herz der Anlage: den Innenhof, der abgeschieden von der Umgebung in der Mitte des Komplexes ruht. Seitlich von lang gestreckten Klassentrakten gerahmt wird er nach Süden durch die freistehende Turnhalle begrenzt; dahinter steigt der Hang steil an. Die Tragstruktur aus Eisenbeton ist aussen wie innen mit einem Sichtmauerwerk aus Kalksandsteinen verhüllt; ohne Schnörkel sorgfältig detailliert verstärkt es die rationalistisch nüchterne Erscheinung des Baus. Im Rückgriff auf geometrische Grundkörper, auf die Spiegelsymmetrie als Organisationsprinzip und in der spezifischen Materialisierung lässt sich deutlich der Einfluss der «Tessiner Tendenza» erkennen.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bauen in Graubünden. Ein Führer zur Gegenwartsarchitektur, hrsg. vom Verlag Hochparterre, Zürich 1996, S. 94/95 und 2006 (3., erw. Aufl.), S. 170/171; Schweizer Architekturführer 1920–1995, Bd. 3 (Westschweiz, Wallis, Tessin), Zürich 1996, Nr. 651, S. 260; informationen 1/88 (Sonderheft: Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 1988.

20 — Siedlung Lacuna, Chur

  • Das Hochhaus: Sinnbild der Moderne und als Lösung zur Behebung der grassierenden Wohnungsnot propagiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Lacuna ist die grösste Churer Siedlung nach einheitlichem Konzept. Architektonisch zeugt sie von einer Gesamtschau, die einzelne Gebäude in Form und Anordnung variiert, um dem Eindruck des Monotonen entgegenzuwirken (© Ralph Feiner, Malans).

  • Luftbild, Oktober 1973; im Vordergrund die Gründungsanlage Lacuna 1 westlich der Aspermontstrasse. Die Anordnung der unterschiedlichen Bautypen folgt der Logik einer Solitär-Überbauung, die ihre einzelnen Elemente möglichst offen über das Gelände verteilt (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG [Zürich]).

  • Luftbild, Oktober 1973, rechts im Bild die im Bau befindliche Lacuna 2. Die Anordnung der Häuser sucht den Ausgleich zwischen freier Streuung und leichter Symmetrisierung (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG [Zürich]).

  • Neue Stadt versus Einfamilienhaussiedlung: die Hochhäuser der Lacuna setzten im Rheinquartier einen starken neuen Akzent (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG [Zürich]).

  • «Amerikanische» Skyline: die Lacuna hat die Silhouette von Chur entscheidend verändert (© Alberto Flammer, Losone).

     

Bauaufgabe Siedlungsbau Adresse beidseits der Aspermontstrasse, 7000 Chur Bauherrschaft private Investoren Planer Thomas und Thomas Domenig Bauzeit 1964–1972 (Lacuna 1) 1972–1981 (Lacuna 2)

Die «Lacuna» in der Rheinebene von Chur gehört in die Kategorie der Grosssiedlungen, wie sie als Reaktion auf das rasante Bevölkerungswachstum und die grassierende Wohnungsnot zur Nachkriegszeit in vielen Schweizer Städten errichtet wurden. Unter den Churer Grossüberbauungen der Zeit ist sie die grösste und grosszügigste – und sticht durch ihren städtebaulichen wie auch architektonischen Anspruch hervor. Das vom entwerfenden Architekturbüro Thomas und Thomas Domenig (1898–1991/*1933) angetriebene Wohnbauprojekt umfasst Wohnraum für 4700 Personen, dazu diverse Geschäftsbetriebe und öffentliche Nutzungen. Nach Fertigstellung der ersten Etappe 1972 wurde die Lacuna von den regionalen Medien mit dem Superlativ der «modernsten Quartierüberbauung der Schweiz» bedacht. Tatsächlich stellte die Siedlung, die die moderne Losung «Licht, Sonne und Luft» befolgte, ein Kontrastprogramm zur historischen Altstadt dar – und verstand sich als sinnvolle Antwort auf die Ausbreitung von Einfamilienhausvierteln der Vierziger- und Fünfzigerjahre im Rheinquartier.

Voraussetzung für die grossmassstäbliche Planung nach den Grundsätzen der Moderne bildete ein Richtplan des Zürcher Büros Marti & Trippel von 1957, der 1960 in den Erlass eines neuen Baugesetzes mit Sondervorschriften für den Bau von Hochhäusern mündete. Das Instrument des Quartierplans sicherte die Realisierung der Überbauung nach einer einheitlichen Konzeption. Diese basierte auf der damals aktuellen, aus den Stadtvisionen Le Corbusiers entwickelten Idee der Neuen Stadt. Angestrebt war eine hohe Nutzungsdichte, gleichzeitig aber sollten ausreichende Freiräume gewährleistet und der Eindruck des Monotonen vermieden werden. Die gemischte Bauweise bot den Schlüssel dazu. Punkthochhäuser, Würfel und langgestreckte Blöcke sind in freier Variation zusammen gruppiert und mit ausgedehnten Grünflächen (bei unterirdisch angelegten Garagen) kombiniert. Das Bestreben um Abwechslung äussert sich über die unterschiedlichen Proportionen und nuancierte Anordnung der Grossbauten hinaus auch in deren differenzierten Gestaltung im Detail.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Carmelia Maissen: Hochhaus und Traktor. Siedlungsentwicklung in Graubünden in den 1960er- und 1970er Jahren, Zürich 2014, S. 66–93; Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 13; Leza Dosch: Kunst und Landschaft in Graubünden. Bilder und Bauten seit 1780, Zürich 2001, S. 359–361; Leza Dosch: Zur städtebaulichen Entwicklung der Stadt Chur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Churer Stadtgeschichte, Bd. II, Chur 1993, S. 208–291, hier S. 263/264; Thomas und Thomas Domenig, Quartierplan Lacuna. I. und II. Etappe, Chur 1973 (6. Aufl.).

19 — Scuola elementare della Valle Calanca, Castaneda

  • Strassenfront; charakteristisch ist die strenge Reihung der einzelnen Kuben (© Ralph Feiner, Malans).

  • Am Rande einer Ebene gelegen, scheidet die Anlage einen grossen öffentlichen Freiraum aus (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick in ein Klassenzimmer; Dachkonstruktion mit geschweissten Fachwerkbindern aus Stahl, Dachuntersichten aus lasierend gestrichenen Perfecta-Platten, Fenster aus Profilstahlrohren (© Ralph Feiner, Malans).

  • Fassade zum Platz (in: Werk, Bauen+Wohnen, 10/1984 [Werk-Material, Beilage 9]).

  • Ansicht von Nordwesten, Eingangsbereich (in: Werk, Bauen+Wohnen, 10/1984 [Werk-Material, Beilage 9]).

  • Ansicht von Südosten (in: Werk, Bauen+Wohnen, 10/1984 [Werk-Material, Beilage 9]).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Via Gangela 2, 6540 Castaneda Bauherrschaft Schulgemeindeverband Calancatal Planer Max Kasper Bauzeit 1981/82

Max Kasper (1934–2008) ist bekannt als Architekt der Kantonsschule Chur (1968–1972); sein erster Wettbewerbserfolg, mit dem ihm auch gleich der grosse Wurf gelang. Die Bündner Kantonsschule, ein typischer Bau der Nachkriegsmoderne mit einer Tragstruktur aus Beton und Fassaden aus Glas und Cortenstahl, blieb Kaspers grösster Bau, nicht aber das einzige Schulhaus aus seiner Hand. Die von ihm erbaute Zentralschulanlage des Calancatals in Castaneda resultierte aus einem Wettbewerb, den die Gemeinde 1977 ausgeschrieben hatte. Die kraftvoll geometrische, von der seinerzeit international rezipierten «Tessiner Tendenza» inspirierte Anlage, ist ein bedeutendes Bündner Beispiel einer der historisierenden Postmoderne nahestehenden Architektur.

Der Komplex umfasst vier Baukuben – drei Klassentrakte und eine Mehrzweckhalle – die ausgangs des historischen Dorfkerns in linearer Anordnung längs zur Kantonsstrasse aufgereiht sind. Die architektonische Formensprache orientiert sich am Prinzip der Regelmässigkeit und der Wiederholung, wodurch die grossmassstäbliche Ordnung in einem verfeinerten Rhythmus am Einzelbau weitergeführt wird. Durch die Auflösung des Bauvolumens in einzelne, nur durch einen rückwärtigen Erschliessungstrakt miteinander verbundene «Pavillons» passt sich die Anlage dem Massstab der historischen Bebauung an. Ihr starker Bezug zum Ort zeigt sich auch in ihrer präzisen Setzung: Riegelartig am Rande einer Ebene platziert, spannt sie einen grossen öffentlichen Freiraum auf, der dem Dorf eine neue Mitte gibt; im Ensemble mit der Gebäudegruppe im Bereich der Kirche bildet die Schule eine Art «Centro civico». In ihrer Konzeption als eine aus den Gegebenheiten herausgebildete Dorferweiterung mit explizit räumlicher Konnotation lassen sich Analogien zu den damals viel diskutierten Städtebautheorien Aldo Rossis (1931–1997) erkennen, der in Ablehnung der voraussetzungslosen Totalplanungen der Moderne für eine historisch-kritische Weiterentwicklung überkommener Stadtstrukturen plädierte.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur informationen 1/88 (Sonderheft: Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 1988; Elementarschule in Castaneda, in: Werk, Bauen+Wohnen, 10/1984 (Werk-Material, Beilage 9).

18 — Siedlung Brentan, Castasegna

  • Die knappen, asymmetrischen Satteldächer der typisierten Einfamilienhäuser vermitteln zwischen Moderne und Tradition (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die kleinen Volumina der Angestelltenhäuser wurden auf der Basis eines geometrischen Rasters unter Rücksichtnahme auf die Kastanienbäume und die natürliche Bodenmodellierung versetzt zueinander gruppiert (© Ralph Feiner, Malans).

  • Einheitlich gestaltet unter Einsatz vor Ort verfügbarer, traditioneller Materialien: Kastanien- und Lärchenholz sowie Gneis (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die einzelnen Häuser zeigen eine gut proportionierte Fassadengestaltung auf der Basis des Goldenen Schnitts (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die einzigartige Lage der Siedlung mitten im Kastanienwald war bestimmend für ihre Gesamtdisposition. Aufnahme um 1960 (in: Terra Grischuna 1961/4 [Das Bergell und die Stadt Zürich, Sondernummer zur Einweihung der Bergeller Kraftwerke der Stadt Zürich]).

Bauaufgabe Siedlungsbau Adresse Via Garbald/Via Brentan/Via d’la Centrale, 7608 Castasegna Bauherrschaft Elektrizitätswerke der Stadt Zürich Planer Bruno Giacometti Bauzeit 1957–1959

Im Zuge des Grossausbaus der Wasserkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg liessen die Elektrizitätsgesellschaften in Graubünden vereinzelt auch Werksiedlungen errichten. Im Bergell, das in den Fünzigerjahren zum Stromlieferanten der Stadt Zürich avancierte, entstanden – in Vicosoprano und Castasegna – zeitgleich zwei solcher Wohnkolonien; sie sollten den von auswärts kommenden Angestellten, die in einem bäuerlichen Umfeld «moderne» Berufe ausübten, eine neue Heimat bieten. Als Plansiedlungen mit geometrischem Raster und normierten Häusern, wie man sie von städtischen Arbeiterquartieren her kennt, konfrontierten sie das Tal mit neuen Wohnformen und einer hier zuvor unbekannten städtebaulichen Strategie. Projektiert wurden beide vom Architekten Bruno Giacometti (1907–2012), dem jüngsten Sohn Giovanni Giacomettis und Bruder Albertos. Giacomettis Beiträge im Rahmen der baukulturellen Erneuerung des Bergells sind bedeutsam, weil sie Konzepte der Moderne in einem auf die Umgebung bezogenen Kontext weiterentwickeln.

Die Siedlung Brentan oberhalb von Castasegna kam in einem der proklamiert «schönsten Kastanienwälder Europas» zu liegen. Die zehn freistehenden Einfamilienhäuser sind in regelmässiger Setzung unter grosser Rücksicht auf den alten Baumbestand und die Modellierung des Bodens in die Landschaft eingepasst. Ihre lichte Anordnung nimmt Bezug auf das herkömmliche Bebauungsmuster der Bergeller Selva mit ihren weit verstreuten Zweckbauten, gleichzeitig manifestiert sich darin das städtebauliche Ideal der durchgrünten, gegliederten und aufgelockerten Stadt. Auf das Umfeld abgestimmt sind die neuen Gebäude auch was ihre bescheidene Grösse, ihre unprätentiöse Erscheinung und den Einsatz ortsypischer Materialien wie Kastanien-, Lärchenholz und Gneis betrifft. Dass sie sich dennoch nicht als folkloristische «Kopien» präsentieren, verdanken sie der zeitgemässen Gestaltung von Grundriss, Gebäude- und Fassadenform. Die einheitliche Erscheinung und identische Ausrichtung der Bauten unterstreichen ihre siedlungsbauliche Zusammengehörigkeit.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Ulrike Fischer: Regionalistische Strategien in der Architektur Graubündens von 1900 bis in die Gegenwart, Tübingen, Berlin 2016, S. 159–173; Roland Frischknecht: Wechselströme in der Architektur – eine Stadt baut in den Alpen, in: Bruno Giacometti, Architekt (Beiheft Bündner Monatsblatt), Chur 2008, S. 41–65; Conradin Clavuot, Jürg Ragettli: Die Kraftwerkbauten im Kanton Graubünden. Chur 1991, S. 182–187.

17 — Caplutta, Sogn Benedetg

  • Mittels bescheidenster Materialien realisiertes Gotteshaus zwischen ortstypischer Tradition und individueller Formfindung (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der vom Baukörper abgesetzte Treppenaufgang zum seitlich platzierten Eingang gemahnt an einen Landesteg und verstärkt die Assoziation mit einem Schiff als altem christlichen Symbol (© Ralph Feiner, Malans).

  • In dem geschlossenen Raum ohne Aussenbezug wird der Besucher zur Besinnung eingeladen. Das von oben einfallende Licht wird durch die feinen Lamellen vor den Fenstern moduliert (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Sakralbau Adresse Via su Val 5, 7175 Sumvitg Bauherrschaft Fundaziun Caplutta Sogn Benedetg Planer Atelier Peter Zumthor Bauzeit 1988

Das kleine Gotteshaus in Sogn Benedetg begründete Peter Zumthors (*1943) Ruf als atmosphärischer Raumzauberer und markiert den Beginn seines kometenhaften Aufstiegs in die globale Spitzenliga der Architektur. Die Geschichte des ikonischen Bauwerks begann mit einem Unglück: 1984 wurde die mittelalterliche Kapelle des abgelegenen Weilers durch eine Lawine zerstört. Man entschied sich, den isoliert vor dem Dorfeingang stehenden Altbau als Ruine zu belassen und einen Neubau oberhalb der Siedlung zu errichten. Aus dem unter fünf Architekten ausgelobten Wettbewerb ging Peter Zumthor als einziger auswärtiger Teilnehmer siegreich hervor, weil sein Entwurf allein ein gleichzeitig singuläres und auf die spezifischen Gegebenheiten des Ortes abgestimmtes Bauwerk versprach.

An einem steil abfallenden Hang über den Häusern von Sogn Benedetg platziert, schmiegt sich das schlichte Gebäude wie selbstverständlich in die Topografie. Der schützende Schindelschirm betont die hölzerne Beschaffenheit des Baus. Die im Kontext der regionalen Sakralbautradition geradezu subversive Materialwahl ist eine Hommage an die bäuerliche Baukultur des Tals. Die traditionelle Hierarchie zwischen Heiligtum und Profanbau bleibt trotzdem gewahrt: durch die erhöhte Lage der Kapelle und ihre ungewöhnliche architektonische Gestalt. Die bis auf den hochliegenden Fensterkranz vollständig geschlossene Aussenhülle umfasst einen einzigen Raum, dessen weiche, fliessende Form sich aus einem blattartigen Grundriss ergibt. Mit der Spitze voran am vorbeiführenden Alpweg «angedockt» und die ausladende Rundung talauswärts gewandt, erscheint die Kapelle wie ein zum Ablegen bereites Schiff. Wer ins Innere tritt, den empfängt ein feierlicher Saal. 37 freistehende Holzstützen betonen die Wölbung der mit einem silbrigen Anstrich veredelten Wand. In Verbindung mit dem Stabwerk des Daches werden sie zu einem grossen Baldachin. Die Oberlichtfenster lassen keinen Blick in die Umgebung zu; vielmehr thematisieren sie den Lichteinfall, der den introvertierten Raum in eine erhabene, kontemplative Stimmung hüllt.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Peter Zumthor. Bauten und Projekte, 5 Bde., Zürich 2014, Bd. 1, S. 49–64; Fabrizio Brentini: Bauen für die Kirche. Katholischer Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, Luzern 1994, S. 257–261; Daniel Schönbächler: Caplutta Sogn Benedetg, Disentis 1992; P[eter] Z[umthor]: Die Verwandtschaft der Formen. Kapelle in Sogn Benedetg, 1988, in: Werk, Bauen + Wohnen, 4/1989; Dem neuen Sogn Benedetg zum Geleit, in: disentis 55/1988, S. 97–117.

16 — Haus Vogelbacher, Stampa

  • Das Haus Vogelbacher-Stampa steht leicht abgerückt von der historischen Dorfzeile im Eck eines alten eingefriedeten Pflanzgartens (© Ralph Feiner, Malans).

  • «A mountain house should always be a minimal act with maximum safety. It must condense the site characteristics into a man-made mold. It is not a mirror, but an echo» (Pierre Zoelly) (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die bunt lackierten Metallläden geben dem strengen Äusseren einen verspielten Touch. Die knalligen Farben stammen aus der Fiat-Collection von 1977 (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die sichtbar belassene Rohbauskulptur in der Mitte des Baus integriert den Ofen und ein Cheminée und fungiert so auch als «warmer Kern»(© Ralph Feiner, Malans).

  • «Dach», «Berg» und «Baum» hat Pierre Zoelly als seine Archetypen bezeichnet. Im skulpturalen Kern des Hauses zeigt sich die Idee des Baumes als architektonisches Grundmotiv besonders gut (in: Pierre Zoelly: Elemente einer Architektursprache. Einführung von Mario Botta. Basel, Boston, Berlin 1998, S. 15).

Bauaufgabe Ferienhaus Adresse Gassa Ciàsa Granda 6, 7605 Stampa Bauherrschaft Privat Planer Pierre Zoelly Bauzeit 1978

Pierre Zoellys (1923–2003) bekanntestes Werk ist das in den Berg gebaute Uhrenmuseum in La Chaux-de-Fonds (1974): ein radikaler Sichtbetonbau und herausragendes Beispiel einer unterirdischen Architektur, für die Zoelly den Begriff «Terratektur» prägte. Der grösste Teil seines vielfältigen und eigenwilligen Werks allerdings gehört in die Kategorie Wohnbau. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei seine «Berghäuser» ein. 1960 war der Architekt nach zehn Jahren in den USA in die Schweiz zurückgekehrt, «to rediscover the Alps and their challenge to an architect», wie er später konstatierte. Am Anfang seiner Beschäftigung mit dem Bauen im alpinen Raum steht ein 1963 erbautes Haus in der Val Fex. Davon ausgehend hat er in Graubünden ein kleines Oeuvre geschaffen, dass sich durch die zeitgenössische Umsetzung traditioneller Bauformen auszeichnet; es macht ihn, den Verfechter einer undogmatischen Moderne, zu einem wichtigen Vertreter der ortsbezogenen Architektur.

Beim Haus Vogelbacher am östlichen Dorfrand von Stampa probte Zoelly die Synthese der beiden wichtigsten historischen Baugattungen im Tal: der – im Bergell meist als Eckpfeilerbau ausgebildeten – Stallscheune und dem Wohnhaus. Auf erstere verweisen die dem Dorf zugewandte Eingangsfront mit dem aufgebrochenen Mittelteil, der statt der üblichen Füllung mit Rundhölzern eine grosszügige Verglasung zeigt, sowie das auskragende, in regionstypischer Weise mit Natursteinplatten gedeckte Giebeldach. Das Wohnhaus repräsentieren die mural geschlossenen übrigen Fassaden mit den unregelmässig verteilten Trichterfenstern und der bergseitige Walm. Das in herkömmlicher Art Geborgenheit und Schutz vermittelnde Haus ist eine im Kontext der tradierten Bauweise ganz ungewohnte Konstruktion: Im Zentrum steht eine Rohbauskulptur aus Beton als Fundament und statischer Kern; sie bildet den physischen Halt für einen gerasterten Holzrahmenbau in quadratischer Form, der innen mit Spanplatten ausgefacht und aussen mit einer verputzten Schicht aus künstlichen Bausteinen ummantelt ist.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Adolf Max Vogt : Pierre Zoelly, 1923–2003. Ein Architekt mit eigenem Leitbild [Nachruf], in: werk, bauen + wohnen 3/2004, S. 56/57; Pierre Zoelly: Footholds in the Alps. Architectural Notes, Basel, Boston, Berlin 1992, S. 58–73 ; Pierre Zoelly: Elemente einer Architektursprache, Basel 1998, S. 8; Robert Obrist, Silva Semadeni, Diego Giovanoli: Construir=Bauen=Costruire. Val Müstair, Engiadina bassa, Oberengadin, Val Bregaglia, Valle di Poschiavo 1830–1980, Samedan 1986, S. 229.

15 — Schul- und Gemeindehaus, Mastrils

  • Der kompakte Baukörper steht senkrecht zur gegebenen Topografie. Ansicht von Südwesten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Das Äussere des Baus ist geprägt durch die abgetreppte Silhouette und den ruhigen Rhythmus der Öffnungen sowie den steinernen Grundton der Fassaden (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die plastisch durchgebildete Fassade betont die Horizontale (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Kaskadentreppe bildet das Rückgrat des abgestuften Baus mit den Klassenzimmern auf der Süd-, den Werk- und Nebenräumen auf der Nordseite (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Schulhaus/Gemeindehaus Adresse Dalavostrasse 2, 7303 Mastrils Bauherrschaft Gemeinde Mastrils Planer Jüngling und Hagmann Bauzeit 1992–1995

1991 schrieb Mastrils einen Wettbewerb für ein neues Gemeindezentrum aus, das neben Schule, Kindergarten und Mehrzwecksaal auch die Gemeindekanzlei und eine Wohnung integrieren sollte. Die Steilheit des Geländes und die exponierte Lage am weithin sichtbaren Hang boten eine besondere architektonische Herausforderung, ebenso die heterogene Bebauung des Dorfes und dessen disperse Siedlungsstruktur. Dieter Jüngling (*1957) und Andreas Hagmann (*1959) haben es verstanden, die verschiedenen Nutzungen in einem kompakten Baukörper zu konzentrieren und diesen so selbstverständlich in die Topografie einzufügen, dass er nicht als störendes Element, sondern als ästhetischer Akzent empfunden wird.

Der Kunstgriff lag darin, das grosse Volumen auf fünf, dem Massstab der gegebenen Bebauung angepasste Einzelhäuser aufzuteilen und diese der Falllinie des Berges entlang kaskadenartig übereinander zu schichten. Die lineare Anordnung quer zum Hang ermöglichte eine optimale Ausnutzung des Raums und die zwanglose Einbindung der Halle in den Gesamtkomplex; sie bildet den oberen Abschluss der Anlage und ist über einen gedeckten Aussengang erschlossen.

Der markante Bau ist mit Backsteinmauern konstruiert. Im Innern treten sie unverputzt und mit prägnantem Fugenbild in Erscheinung und tragen zu einer warmen Atmosphäre bei. Nach aussen hingegen präsentiert er sich als reines Betongebäude, was das Bild eines Gesteinsgeschiebes evoziert. Vorgeblendete Wandfelder aus gewaschenem Stampfbeton, Fassadenbänder aus armiertem Beton und nur leicht geneigte, asymmetrische Satteldächer aus vorgespanntem Beton – in Betonung der Horizontale zusammen komponiert, um den Eindruck übereinander geschobener Schichten zu verstärken. Innen wird das Thema durch eine über alle Geschosse verlaufende gerade Treppe mit stirnseitigen Ausblicken weitergeführt; ihr entlang ordnen sich die Klassenzimmer als ruhige, seitlich belichtete Räume an.

Aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Ort entstanden, vermochte der dezidiert öffentliche Bau dem räumlich verzettelten Dorf eine Mitte zu geben.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bauwerke. Dieter Jüngling und Andreas Hagmann, hrsg. von Heinz Wirz (Texte von Walter Zschokke), Luzern 2002; Anna Meseure, Martin Tschanz, Wilfrid Wang (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Schweiz, München […] 1998, S. 292/293; Andres Janser: Geordnetes Geschiebe, in: archithese 6/1995, S. 64–68; Felix Kuhn, Jürg Graser: Schulhaus Mastrils, in: Faces 34/35, 1995, S. V/VI.

14 — Hochhaus Alpha, Davos Platz

  • Ansicht von Südosten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Historische Aufnahme mit den bauzeitlichen Balkonbrüstungen (in: Das Werk, 52 [1965], Heft 4, S. 138).

  • Optimale Ausnützung des Raums auch im Innern: Das Esszimmer in der Tiefe des Grundrisses liegt zwei Stufen tiefer als die Stube, wegen des besseren Lichteinfalls (in: Das Werk, 52 [1965], Heft 4, S. 139).

  • Blick vom Fenster zum Eingang (in: Das Werk, 52 [1965], Heft 4, S. 139).

Bauaufgabe Tourismusbau Adresse Ortstrasse 7, 7270 Davos Platz Bauherrschaft Landschaft Davos Planer Ernst Gisel (Quartierplan, Vorstudie); Moser Ronner Schilling mit Jakob Lutta Bauzeit 1962/63

Nach dem Zweiten Weltkrieg positioniert sich Davos neu: weg von der Krankenstation für Lungenkranke hin zur ganzjährig attraktiven Feriendestination und zum internationalen Tagungsort. Der Zürcher Architekt Ernst Gisel (*1922), der im Auftrag der Gemeinde ein modernes Hallenbad (eröffnet 1965) und ein Kongresszentrum (1969) plant, beschäftigt sich mit der raumplanerischen Problematik dieses Wandels. Als Alternative zur planlosen Zersiedelung regt er an, die neu entstehenden Ferienhäuser in «ein paar Satelliten-Feriendörfern» zu konzentrieren und dem steigenden Bedarf an Zweitwohnungen mit dem Konzept einer punktuellen Verdichtung zu begegnen: Für das Gelände des ehemaligen Parksanatoriums am oberen Dorfrand von Davos Platz erarbeitet er einen Quartierplan, der die Möglichkeit einer Überbauung des Areals mit fünf Hochhäusern schafft. Das auf dieser Basis errichtete «Alpha» gehört mit zu den ersten Hochhäusern im Kanton. Gisel brachte mit ihm die moderate Moderne skandinavischer Prägung in die Berge. Das markante Gebäude mit seinem fächerförmigen Grundriss ist von Alvar Aaltos viel beachtetem Hochhaus Neue Vahr in Bremen (1959–1961) inspiriert. Ausgeführt wurde es von einer Bürogemeinschaft, in der mit Walter Moser (*1931) ein Architekt einsass, der am Bremer Vorbild mitgewirkt hat.

In abschüssiger Lage am Waldrand gelegen, fügt sich das für Davos ganz neuartige Haus perfekt in die Landschaft ein. Über dem Erdgeschoss mit der grosszügigen Lobby stapeln sich acht identisch gegliederte Wohngeschosse mit je fünf keilförmigen Eigentumswohnungen unterschiedlicher Grösse, die dem Tagesverlauf der Sonne entsprechend zueinander versetzt im Viertelkreis angeordnet sind. Diese Anlage garantiert nicht nur eine optimale Belichtung und beste Aussicht ins Hochgebirge, sondern auch den Schutz vor gegenseitigem Einblick. Die Fassade erhält durch ihre polygonale Teilung in fünf Segmente eine prägnante Form. Durch vorvergraute Lättli ersetzt wurden jüngst die kräftigen Bretter der Balkonbrüstungen, die als Kontrast zu den feinen Kunststeinplatten der Wände die Schaufront einst zusätzlich belebten.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Köbi Gantenbein, Jürg Grassl, Philipp Wilhelm: Bauen in Davos. Ein Führer zu historischer und zeitgenössischer Architektur, Zürich 2019, S. 108/109; Ernst Gisel Architekt, hrsg. von Bruno Maurer und Werner Oechslin, Zürich 2010, S. 94 und S. 426; [s.n.]: Eigentumswohnungen in Davos-Platz, in: Das Werk, 52 (1965), Heft 4, S. 138/139; Marianne Gisel: Davos – Zentrum und Dezentralisierung, in: Das Werk, 49 (1962), Heft 7, S. 234–237.

13 — Rheinbrücke, Tamins–Domat/Ems

  • An landschaftlich empfindlicher Stelle setzt der «Menn-Bogen» trotz seiner immensen Grösse einen ästhetischen Akzent (© Ralph Feiner, Malans).

  • Die Spannweiten der Aufständerung zwischen 12 und 15 Metern ergeben ein ausgewogenes Tragwerk und unterstützen die elegante Geste des Flussüberschlags (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick vom östlichen Widerlager Richtung Tamins. Der polygonal gebrochene Bogen entspricht genau der Stützlinie (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der 100 Meter weit gespannte Bogen wurde mit einem Lehrgerüst erstellt (in: Christian Menn. Brückenbauer, Basel 1997, S. 62).

  • Luftaufnahme vom 12. Juni 1964; die Brücke steht, die Zufahrtstrassen sind noch nicht erstellt (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG).

  • Der «Menn-Bogen» bei Tamins (hier noch mit Lehrgerüst) ist Teil der Reichenauer Brückenlandschaft; Luftbild 1963 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG).

     

Bauaufgabe Brücke Adresse Kantonsstrasse H19, 7015 Tamins und 7013 Domat/Ems Bauherrschaft Kanton Graubünden Planer Christian Menn Bauzeit 1962/63

Christian Menn (1927–2018) gehört zu den wenigen Schweizer Brückenbauern von internationalem Rang. Sein Werk steht synonym für die Vereinigung von technischem Können mit gestalterischer Kompetenz. Als Dreissigjähriger hatte er in Chur sein eigenes Ingenieurbüro eröffnet – der anstehende Ausbau der Strassen schien ein sicheres Einkommen zu garantieren. Bis zum Antritt seiner ETH-Professur 1971 sollte er rund 100 Betonbrücken projektieren, die meisten davon in Graubünden selbst. Einen besonderen Stellenwert in diesem beeindruckenden Oeuvre nehmen die 13 weit gespannten Bogenbrücken ein, die Menn in seinem Heimatkanton realisierte.

Was im Avers mit der Interpretation von Robert Maillarts (1872-1940) Dreigelenk-Hohlkasten und versteiftem Stabbogen begann, wurde weiterentwickelt zu einem statisch optimierten System: der versteiften Bogenbrücke mit teilweise vorgespannter Fahrbahnplatte. Erstes Beispiel dieses technisch durchdachten und ästhetisch attraktiven Brückentyps war die 158 m lange Brücke bei Tamins, die den vereinten Rhein an landschaftlich sensibler Stelle mit einer Bogenspannweite von 100 m überquert. Das hier benutzte Entwurfsprinzip sollte Menn entlang der A13 zwischen Chur und Bellinzona mehrfach zur Anwendung bringen. Es beinhaltet einen polygonalen, der Drucklinie folgenden filigranen Bogen sowie einen stark aufgelösten Überbau mit einem niedrigen, weil teilweise vorgespannten Kastenträger, der auf weit auseinander stehenden dünnen Scheiben lagert und statisch mit dem Bogen ein monolithisches Tragwerk bildet. Die Ökonomie der Mittel und der Form frappiert und lässt einen rätseln, wie eine solch sparsame Brücke überhaupt zu stehen vermag. Bogen, Stützen und Fahrbahnträger sind gleichermassen schlank und wirken als harmonisches Ganzes. Die Leichtigkeit und Transparenz des Bauwerks dient der diskreten Einpassung in die Topografie. Im Zusammenspiel mit der Ruhe des aufgestauten Flusses vermittelt der «Menn-Bogen» bei Tamins einen Eindruck von geradezu vollkommener Eleganz.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Eugen Brühwiler: Christian Menn (1927–2018). Bauingenieur aus Leidenschaft, in: TEC21, 2019/Nr. 22–23, S. 20–25; Caspar Schärer, Christian Menn (Hrsg.): Christian Menn. Brücken, Zürich 2015, S. 82–93; Christian Menn. Brückenbauer, hrsg. von Thomas Vogel und Peter Marti (Schriftenreihe der Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, Bd. 3), Basel […] 1997.

12 — Turmhaus, Sevgein

  • Ansicht von Norden (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ansicht von Westen auf die abgewinkelte Eingangsfront (© Ralph Feiner, Malans).

  • Von Nordosten her erblickt man das Haus von seiner schmalen Seite als einen solitären Turmbau (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ein raumhohes und fassadenbreites Panoramafenster zieht die Landschaft in die Stube hinein (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Einfamilienhaus Adresse Fir 58b, 7127 Sevgein Bauherrschaft Privat Planer Bearth & Deplazes Bauzeit 1997/98

Ein Haus mit Kammern und Gängen, labyrinthisch wie der Bau einer Mäusepopulation – so stellte sich die Bauherrschaft ihr neues Eigenheim am nordöstlichen Ortsrand von Sevgein vor. Die Abneigung der Auftraggeber gegenüber einem sich horizontal ausbreitenden Raumkontinuum, die idyllische Lage der Bauparzelle auf einer kleinen Waldlichtung mit freier Sicht aufs Vorderrheintal, die sanfte Neigung des Geländes und die optimale Ausnutzung der baugesetzlichen Möglichkeiten dienten den Architekten Valentin Bearth (*1957), Andrea Deplazes (*1960) und Daniel Ladner (*1959) als Parameter für ihren Entwurf. Entstanden ist ein unregelmässig geformter, hoher Bau, der sich über schmalem, polygonalem Grundriss erhebt. Dank seiner Schlankheit und seiner kalibrierten Setzung an der seitlichen Grenze des Grundstücks blieb der Blick vom Dorf zur Landschaft unverstellt. Dabei wirkt das Haus alles andere als an den Rand gedrängt. Selbstbewusst erhebt es sich über dem abschüssigen Boden, einer kristallinen Grossplastik gleich, die sich mal turmartig aufstrebend, mal massig breit präsentiert. Die Räume im Innern sind um eine halbe Geschosshöhe gegeneinander versetzt und mit Treppen verbunden, so dass eine vertikale Raumspirale entsteht; damit werden trotz der geringen Abmessungen der Zimmer grosszügige räumliche Verhältnisse erzeugt.

Um die Kosten klein zu halten, wurde das Haus als ein in Elementen vorfabrizierter Holzrahmenbau mit bereits fertig montierten Dachflächenfenstern konstruiert. Eine schlichte, aufrecht gestellte Bretterschalung verdeckt die Konstruktion. Die graue Lasur unterminiert den hölzernen Charakter der Fassade. So scheint das Volumen weniger gefügt und gezimmert als vielmehr gegossen zu sein. Die monolithische Wirkung des Baukörpers wird durch seine kompakte Geschlossenheit verstärkt – spärlich sind die fassadenbündig eingelassenen Fenster und dazu noch unregelmässig verteilt, dem Dach fehlt der gewohnte Überstand. Das vertraute Bild eines mittelalterlichen Wohnturms stellt sich ein. Auf subtile Weise wird das Haus so über den Ort hinaus in der Region verankert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bearth & Deplazes. Konstrukte/Constructs, hrsg. von Heinz Wirz, Luzern 2005, S. 126; [s.n.]: Wohnhaus Willimann-Lötscher, in: Werk, Bauen + Wohnen 3/1999 (Neues Wohnen II: Individualisierung und Spezialisierung), S. 30–33; Räumlinge. Valentin Bearth & Andrea Deplazes, hrsg. von Heinz Wirz (Texte von Ákos Moravánsky), Luzern 1999, S. 44–53.

11 — Kraftwerkzentrale, Safien Platz

  • Die Maschinenhalle ist der Hauptbau des Zentralenkomplexes (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick vom Dorf über die betonierte Wanne des Ausgleichbeckens auf das harmonische Ensemble von spätgotischer Kirche und moderner Kraftwerkzentrale (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick durch die Freischaltanlage Richtung Carnusaschlucht, deren Eingang von der alten Dorfkirche und der Kraftwerkzentrale dominiert wird; Aufnahme 1976 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Walter Schmid).

  • Die Maschinenhalle von hinten (© Christian Kerez, in: Clavuot/Ragettli: Kraftwerkbauten, 1991, S. 148).

  • Blick ins Innere der Maschinenhalle (© Christian Kerez, in: Clavuot/Ragettli: Kraftwerkbauten, 1991, S. 149).

Bauaufgabe Kraftwerk Adresse Kirchweg 2, 7107 Safien Platz Bauherrschaft Kraftwerke Zervreila AG Planer William Dunkel Bauzeit 1957

In den 1950er- und 60er-Jahren erhielt der Bau von Wasserkraftwerken zur Gewinnung elektrischer Energie einen markanten Schub. In ganz Graubünden entstanden damals regional übergreifende Grossprojekte mit künstlich aufgestauten Seen und in Serie gekoppelten Anlagestufen. Darunter auch jenes der Kraftwerke Zervreila AG (1953–1958) mit einer gigantischen Staumauer im oberen Valsertal, zwei Ausgleichsbecken im Safiental sowie Zentralen in Zervreila, Safien Platz und Rothenbrunnen. Wie massiv sich diese Ausnützung der Wasserkräfte auf die Orts- und Landschaftsbilder auswirkte, zeigt sich beispielhaft in Safien Platz, wo das Elektrizitätswerk mit der Freischaltanlage und dem monumentalen Ausgleichsbecken zum alles beherrschenden Moment geworden ist. Die von ETH-Professor William Dunkel (1893–1980) entworfene Zentrale allerdings, die direkt gegenüber der isoliert stehenden spätgotischen Dorfkirche zu errichten war, zeugt von einem reflektierten Umgang mit der empfindlichen Situation. Um das technisch vorgegebene Bauvolumen optisch möglichst klein zu halten, teilte Dunkel die Zentrale in mehrere Baukörper auf und ordnete diese dicht am Fusse des bewaldeten Steilhangs entlang an, quasi als Begleitung des von der Kirche aufgespannten und der Topografie gehaltenen Raums. Dezidiert modern gestaltet, wird die Anlage von der Maschinenhalle als ihrem grössten und wichtigsten Element dominiert. Der als Stahlskelettkonstruktion ausgeführte Sichtbacksteinbau ist auf einem eingetieften Betonsockel vom Boden abgehoben und durch ein hochliegendes, umlaufendes Fensterband belichtet. Das fassadenbündig angesetzte Betonflachdach akzentuiert die klare Form und verstärkt die Objekthaftigkeit des ungemein leicht und elegant wirkenden Baus. In zeittypischem Vertrauen in die ästhetische Qualität des Kontrasts hat Dunkel das technische Bauwerk frei jeglicher regionalistischer Anleihen als architektonischen Kontrapunkt zur Kirche konzipiert. Die Betonung der Eigenständigkeit lässt sich als abstrakte, intellektuelle Form einer rücksichtsvollen Einpassung in den traditionellen Kontext lesen.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Conradin Clavuot, Jürg Ragettli: Die Kraftwerkbauten im Kanton Graubünden. Chur 1991, S. 146–150; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 325, S. 88.

10 — Stazioni di rifornimento, Castasegna

  • Blick talabwärts Richtung italienischer Grenze (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick talaufwärts (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der Kiosk in seiner urspünglichen Funktion kurz nach dem Bau (© Alberto Flammer, Locarno, in: Architektenlexikon der Schweiz, Basel […], 1998, S. 93).

  • Gesamtanlage im Originalzustand (© Fondazione Archivi Architetti Ticinesi, Fondo Peppo Brivio).

  • Blick von oben, Aufnahme kurz nach der Eröffnung der Tankstelle (© Fondazione Archivi Architetti Ticinesi, Fondo Peppo Brivio).

  • Blick Richtung Italien, Aufnahme kurz nach der Eröffnung (© Fondazione Archivi Architetti Ticinesi, Fondo Peppo Brivio).

Bauaufgabe Tankstelle Adresse Strada Cantonale 42, Farzett, 7608 Castasegna Bauherrschaft City Carburoil SA Planer Peppo Brivio Bauzeit 1962/63

Zur Zeit, als die Massenmobilisierung durch das Auto zum Druchbruch gelangte, entstand an der Kantonsstrasse zwischen Bondo und Castasegna die bis heute extravaganteste Tankstelle Graubündens. Im Auftrag einer Tessiner Ölgesellschaft wurde sie vom Luganeser Peppo Brivio (1923–2016) entworfen, einem jener Architekten, die in den 1950er-Jahren die moderne Architektur ins Tessin gebracht hatten. Die verspielt-eleganten «Betonpilze», die Brivio im Bergell errichtete, lassen jene Experimentierfreude erkennen, welche die internationale Tankstellenarchitektur der 1950er und -60er Jahre in ihren besten Beispielen auszeichnet. Der gestalterische Fokus lag stets auf den Schutzdächern, welche die Zapfsäulen überspannen, und die sich mit der modernen Technik des Stahlbetons zu immer gewagteren Formen und Dimensionen steigern liessen. Brivios Konstruktion ist ein Flächentragwerk in Form einer kegelförmig gekrümmten, nach aussen sich verjüngenden dünnen Schale von beinahe 11m Durchmesser, die, einem Kreisel gleich, mit der Spitze nach unten auf einem schlanken Zylinder «balancierend» der Schwerkraft zu trotzen scheint. Die prägnante Trichterform mag man als eine Referenz an den Ort interpretieren, nimmt sie doch mit ihren schrägen Linien die Neigung der Talflanken auf. Doch lag dem Entwurf wohl eher der Wunsch nach einer radikalen Beschränkung auf nur zwei geometrische Körper zugrunde. Die formale Reinheit, die durch die unverhüllte Nacktheit des Betons zusätzlich betont wird, verlieh dem Bauwerk jene signalhafte Wirkung, die angesichts der beengten Verhältnisse des Bauplatzes für eine Anlage mit kommerzieller Nutzung angezeigt war. Wieviel Wert der Architekt auf die Wahrnehmung der Form legte, zeigt sich bei den Kiosken, wo er zu einer (partiellen) Ummantelung der monumentalen Pilzsäule gezwungen war: Mit dem Einsatz grosser Glasflächen schuf er jene Transparenz, die es ermöglicht, die Gestalt des in den Innenraum greifenden Daches auch von aussen erlebbar zu machen.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Robert Obrist, Silva Semadeni, Diego Giovanoli: Construir=Bauen=Costruire. Val Müstair, Engiadina bassa, Oberengadin, Val Bregaglia, Valle di Poschiavo 1830–1980, Samedan 1986, S. 237; Ludmila Seifert-Uherkovich: Architekturrundgang Bergell, hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2012, Nr. 23.

09 — Einstellhalle Plarenga, Domat/Ems

  • Die Halle gibt dem Werkhof räumlichen Halt, Ansicht von Nordwesten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ansicht von Nordosten, Aufnahme 1988 (© Isa Stürm Urs Wolf SA).

  • Vorgespannte Ortbetonkonstruktion mit Kies aus dem Rhein und Kalk vom Calanda, Aufnahme 1988 (© Isa Stürm Urs Wolf SA).

  • Blick ins Innere während des Baus, 1988 (© Isa Stürm Urs Wolf SA).

Bauaufgabe Gewerbebau Adresse Via la Val 9, 7013 Domat/Ems Bauherrschaft Wolf Bau AG Planer Isa Stürm, Urs Wolf Bauzeit 1988

Der Forderung des modernen Städtebaus nach einer funktionalen Entmischung folgend werden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausserhalb der Wohnsiedlungen mehr oder minder weitläufige Gewerbe- und Industriezonen ausgeschieden. Trotz deren meist exponierter Lage am Dorfrand mit ortsbildprägender Wirkung unterliegt ihre Bebauung in aller Regel pragmatischer Zweckmässigkeit und architektonischer Banalität. Ein mit baukünstlerischer Ambition geplanter Gewerbebau lässt daher aufhorchen. Die 1988 östlich von Domat/Ems errichtete Einstellhalle, der erste Neubau der Architektengemeinschaft Isa Stürm (*1958) und Urs Wolf (*1958), wurde 1994 gar mit einer Auszeichnung für gutes Bauen bedacht.

Der in Ergänzung zu einem bestehenden Werkhof errichtete Bau ist ganz aus an Ort gegossenem Beton gefertigt. Seine einzige Bestimmung ist es, Fahrzeuge und Geräte vor der Witterung zu schützen. Entsprechend reduziert ist auch die Architektur. Neun Zweigelenkrahmen mit gespreizten Stielen bilden das konstruktive Grundgerüst, das durch leicht schräge Wände und schwach geneigte Dächer ausgesteift wird. Die über 60 Meter lange Abfolge von acht in der Höhe sich steigernden Segmenten ergibt eine gezackte Silhouette von bildhafter Wirkung. Die Verglasungen der Tore und Fenster sind durch horizontal auskragende Betonteile geschützt und durch deren Schattenwurf verdeckt. So bleibt der monolithische Charakter der Gesamtform bewahrt und der Baukörper erscheint als landschaftliches Element.

In ihrer ursprünglichen Isoliertheit schien sich die Betonhalle wie natürlich aus dem bewaldeten Schuttkegel des Berges in die Talebene hervorzustemmen. Der topographische Bezug des Gebäudes ging mit der fortschreitenden Bautätigkeit verloren, wie auch seine einst markante Fernwirkung, welche die Halle bei der Einfahrt ins Dorf zum Blickfang werden liess. In der stark veränderten Umgebung kommt ihre elementare Ausdruckskraft nur mehr vermindert zur Geltung.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bauen in Graubünden. Ein Führer zur Gegenwartsarchitektur, hrsg. vom Verlag Hochparterre, Zürich 1999 (2., erw. Aufl.), S. 58/59; Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden 1994 (informationen 1/95, Sonderheft), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung und dem Bündner Heimatschutz, Chur 1995; Peter Disch. Architektur in der Deutschen Zeit 1980–1990, Lugano 1991 (2., erw. Aufl.), S. 266.

08 — Heiligkreuzkirche, Chur

  • Der komplex strukturierte Innenraum der Kirche ist eine effektvoll lichtmodellierte Raumplastik (© Ralph Feiner, Malans).

  • Der dominante Turmkreuzkörper macht die abstrakte Architekturplastik als Kirche erkennbar (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ansicht von Nordosten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Vor der Überbauung der näheren Umgebung kam die bewegte Silhouette des Pfarreizentrums noch stärker zur Geltung (werk 12/1971, S. 812).

  • In Bezug auf den Innenraum der Churer Heiligkreuzkirche sprach Förderer selbst von einer «inszenierten Sakralität» (werk 12/1971, S. 813).

Bauaufgabe Sakralbau Adresse Masanserstrasse 161, 7000 Chur Bauherrschaft Katholische Kirchgemeinde Chur Planer Walter Maria Förderer Bauzeit 1967–1969

Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung stand die Churer Heiligkreuzkirche isoliert am Rande des städtischen Erweiterungsgebietes, weitläufig von Feldern und Wiesen umgeben. Die exponierte Lage verstärkte den Eindruck eines über das Terrain sich erhebenden Gesteins. «Bei der ersten Besichtigung» des Bauplatzes, erinnerte sich der Architekt, «überkam mich die Vorstellung, dass die neue Kirche wie eine von der nahen hohen Bergwand heruntergebrochene und hier aufgetürmte Felsmasse wirken sollte». Die Ästhetik des Sichtbetons trägt wesentlich zur gewünschten Assoziation bei, ebenso die monolithische Schwere der Baumasse und deren expressiv-bewegte Formung. Die verschachtelte Volumetrik und überbordende Plastizität sind Kennzeichen der sehr persönlichen Architekturhandschrift von Walter Maria Förderer (1928–2006). Über die Bildhauerei hatte er zur Architektur gefunden und zuerst mit Schulhausbauten für Furore gesorgt, bevor er sich auf den Sakralbau zu konzentrieren begann. Von 1967 bis 1971 errichtete Förderer an verschiedenen Orten in der Schweiz insgesamt sieben katholische Kirchen; alles monumentale Bauwerke, bei denen er sich auf eine Gratwanderung zwischen Architektur und Skulptur begab. Kein anderer Schweizer Architekt seiner Generation ging virtuoser mit dem Werkstoff Beton um, der in der Nachkriegszeit zum wichtigsten Baumaterial avancierte.

Die als Pfarreizentrum konzipierte Heiligkreuzkirche in Chur realisierte Förderer – wie alle seine Sakralbauten – in der Nachfolge eines Wettbewerbs. Die Kirche ist mit den anderen Körpern des multifunktionalen Komplexes gestalterisch zu einer Einheit zusammengefügt. Die vielfältigen Raumabfolgen vermitteln Grunderlebnisse von dunkel und hell, niedrig und hoch, eng und weit, leicht und schwer. Kulminationspunkt der begehbaren Plastik ist der stützenlos überdeckte, höhlenähnliche Kirchenraum, der schichten- und stufenweise emporsteigt; die indirekte Belichtung trägt zu seiner mystischen-sakralen Atmosphäre bei, welche die Bedeutung des Raums als Ort der inneren Einkehr unterstreicht.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Michael Hanak: Skulpturale Nachkriegsmoderne in Chur, in: Bündner Monatsblatt, 1/2013, S. 65–98; Fabrizio Brentini: Bauen für die Kirche. Katholischer Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, Luzern 1994, S. 162–178; Luzi [Leza] Dosch: Die Heiligkreuzkirche in Chur (Schweizerische Kunstführer, hrsg. von der GSK), Bern 1989; Max Bächer: Walter M. Förderer, Architektur – Skulptur, Neuchâtel 1975; Einweihung der Heiligkreuzkirche in Chur, in: Bündner Tagblatt, 31. Mai 1969, Beilage (darin Bericht des Architekten); Walter M. Förderer: Kirchenbau von heute für morgen? Fragen heutiger Architektur und Kunst, Zürich 1964.

07 — Chasa da scola, Duvin

  • Ansicht von Westen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Eingangsfront (© Ralph Feiner, Malans).

  • Vorraum mit Erschliessung (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ansicht von Nordwesten, Aufnahme 1995 (© Lucia Degonda, Zürich).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Buortga 5, 7112 Duvin Bauherrschaft Gemeinde Duvin Planer Gion A. Caminada Bauzeit 1994/95

Gion A. Caminada (*1957) stand am Beginn seiner Architektenlaufbahn, als er 1992 den Wettbewerb für ein Schulhaus in Duvin gewann. Der Bau mit dem minimalen Raumprogramm einer Kleinschule stammt aus der Zeit vor den grossen Gemeindefusionen, als selbst dem abgelegensten Bergdorf der Anspruch auf ein eigenes zeitgemässes Schulgebäude zugebilligt wurde – heute wird die Chasa da scola nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion genutzt. Das schlichte Bauwerk, das sich perfekt in die kleinteilige Struktur des historischen Dorfkerns einfügt, steht exemplarisch für Caminadas Ideal einer Architektur, die als Synthese zwischen Tradition und Innovation gleichzeitig ortsbezogen und fortschrittlich ist.

Im Ensemble mit der Kirche, dem Friedhof und der zur Gemeindekanzlei und Post umfunktionierten alten Schule bildete Caminadas Schulhaus am Eingang von Duvin einen zentralen öffentlichen Ort. Durch seine spezifische Setzung definiert es sowohl einen zum Tal hin offenen Hof wie auch einen auf das Innere der Siedlung bezogenen dreiseitig gefassten Platz. Die städtebaulichen Vorzüge des Gebäudes werden verstärkt durch seine architektonische Qualität, die an den ausgewogenen Proportionen und der zurückhaltenden Gestaltung erlebbar wird. Mit dem Strickbau knüpft Caminada an die Konstruktionsweise der regionalen Bauernhäuser an – nicht, um sie zu imitieren, sondern um sie mit Hilfe moderner technischer Mittel gleichsam zu revolutionieren und neuen Bedürfnissen zu erschliessen. Ein von Ingenieur Jürg Conzett entwickeltes zweiachsig tragendes Holz-Beton-Verbundsystem machte es möglich, für den Strickbau ganz neuartige Spannweiten von bis zu 9 m und nur über die Ecken ausgesteifte Wandflächen mit grossen Fensteröffnungen zu realisieren. Doch nichts an diesem so gelassen erscheinenden Gebäude deutet auf einen statischen Parforceritt hin. Das Innere des Holzbaus strahlt die Behaglichkeit einer Stube aus; es erzeugt Vertrautheit zur Steigerung der Lernfähigkeit.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Bettina Schlorhaufer (Hrsg.): Cul zuffel e l’aura dado – Gion A. Caminada, Luzern 2018 (2., erw. Aufl.), S. 75–83 und 85–101 (Jürg Conzett: Bemerkungen zu den Tragwerken der Gemeindebauten von Duvin und Vrin); Gute Bauten in Graubünden 2001 (BVR-Informationen 2/01, Sonderheft), hrsg. vom Bündner Heimatschutz und der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 2001; Neues Bauen in den Alpen. Architekturpreis 1999, hrsg. von Christoph Mayr Fingerle, Basel, Boston, Berlin 2000, S. 48–52.

06 — Ensemble Las Caglias, Flims

  • Das Mehrfamilienhaus «Casa Radulff» (1970–1972) ist an das Apartmenthaus «Las Caglias» (1959/60) angebaut und inwendig mit diesem verbunden. Die Säulenreihe markiert den Eingang zum «Café Las Caglias» als öffentlich zugänglichem Treffpunkt (© Ralph Feiner, Malans).

  • «Café Las Caglias» in der «Casa Radulff» mit Blick auf das ins Mehrfamilienhaus integrierte Schwimmbad (1970–1972) (© Ralph Feiner, Malans).

  • Apartmenthaus «Las Caglias» (1959/60) im Zentrum des Quartiers, Ansicht von Westen, historische Aufnahme (Das Werk, 52/1965, S. 135).

  • Haus Dr. Eugster (1961/62), Via Surpunt 8 (Nachlass Rudolf Olgiati, Archiv gta, ETH Zürich).

  • Haus Ekström (1956/57), Via Surpunt 14 (Nachlass Rudolf Olgiati, Archiv gta, ETH Zürich).

  • Häuser Coray (1958 – Via Las Caglias 9), Lüthi-Geiger (1959 – Via Las Caglias 7) und Domeniconi (1961 – Via Sut Baselgia 8) (Boga: Olgiati, 1983, S. 95).

Bauaufgabe Wohnbau/Ferienhaus Adresse Via las Caglias / Via Surpunt / Via Sut Baselgia, 7018 Flims Waldhaus Bauherrschaft Diverse Planer Rudolf Olgiati Bauzeit 1951–1974

Unter den Architekten, die in Graubünden während der Boomjahre der Nachkriegszeit markante bauliche Spuren hinterlassen haben, ist Rudolf Olgiati (1910–1995) fraglos der eigenwilligste. 1944 hatte er sich in Flims niedergelassen, um hier, fernab vom internationalen Puls, unbeirrt seine Vision einer vom «Gefühl des Sehens» geleiteten Architektur zu verfolgen. In der Auseinandersetzung mit Le Corbusier, dem griechischen Tempel und der regionalen Bautradition namentlich des Engadins fand er zu einer ganz singulären, von den gängigen Strömungen seiner Zeit quasi unabhängigen Ausdrucksweise. Olgiatis Ideal einer körperhaften, kubisch aufgefassten Architektur führte in seiner Umsetzung zu scharfkantig begrenzten Baukörpern mit glatt verputzten, weiss gestrichenen Mauerschalen, deren Kompaktheit durch die plastische Verformung und die in Grösse, Form und Anordnung variierenden Öffnungen unterstrichen wird. Um den Charakter des Körperhaften zu bewahren, sind die mit schweren Steinplatten bedeckten Dächer flach geneigt, treten nur wenig vor oder bleiben gar hinter den hochgezogenen Mauerkronen zurück. Korbbögen, Säulen sowie Fassaden- und Dachausschnitte verstärken die plastische Wirkung.

Im Gebiet «Prau Las Caglias» in Flims Waldhaus hatte Olgiati 1951 begonnen, ererbtes Wiesland mit freistehenden Häusern, meist Zweitwohnsitzen, zu überbauen; bis 1974 sollte dort ein eigentliches «Olgiati-Quartier» mit 17 individuell gestalteten Gebäuden entstehen. Das einmalige Ensemble demonstriert auf überschaubarem Raum Olgiatis schöpferische Praxis mit dem eigenen Regelwerk, das er unter dem Begriff «optische Sachlichkeit» subsumierte. Die malerisch ins unruhig geformte Hügelgelände eingepassten Bauwerke zeugen von seiner Meisterschaft im Umgang mit dem spezifischen Ort. Hauptwerk der kleinen Siedlung ist das prominent auf einer felsigen Erhebung situierte Apartmenthaus «Las Caglias», ein Bau von 1959/60, der zum ersten Mal praktisch den vollständigen Kanon der Elemente zeigt, die Olgiati bis zu seinem Tod in immer neuen Variationen angewendet hat.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Carmelia Maissen: Einschiffen nach Kythera. Das Ensemble Las Caglias von Rudolf Olgiati in Flims, in: Bündner Monatsblatt 3/2016, S. 352–371; Martin Tschanz: Regionalismus als Utopie. Zum Werk von Rudolf Olgiati, in: Vittorio Magnagno Lampugnani (Hrsg.): Die Architektur, die Tradition und der Ort, Stuttgart, München 2000, S. 417–443; Leza Dosch: Olgiati, Rudolf, in: Isabelle Rucki und Dorothee Huber (Hrsg.): Architektenlexikon der Schweiz. 19./20. Jahrhundert. Basel 1998, S. 405/406; Ursula Riederer: Rudolf Olgiati. Bauen mit den Sinnen, Chur 2004; Thomas Boga (Hrsg.): Die Architektur von Rudolf Olgiati. Zürich 1983 (3., erw. Aufl.).

05 — Dominikanerinnenkloster, Ilanz

  • Ansicht von Südwesten mit dem Klausurtrakt im Vordergund (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick in die Kirche. Glas- und Deckenmalereien von Max Rüedi, liturgisches Mobiliar von Alfred Huber (© Ralph Feiner, Malans).

  • Ansicht von Süden, um 1975 (© Fotostiftung Graubünden / Foto: Lisa Gensetter).

  • Innenhof der Klausur, 1973 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Hans Krebs).

  • Innenhof der Klausur, 1973 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Hans Krebs).

  • Erschliessungstrakt der Klausur, 1973 (© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Hans Krebs).

Bauaufgabe Sakralbau Adresse Klosterweg 16, 7130 Ilanz/Glion Bauherrschaft Institut St. Josef Planer Walter Moser Bauzeit 1969 (1975 erweitert)

In einer von Wirtschaftsboom und Fortschrittsgläubigkeit geprägten Zeit liessen sich die Ilanzer Dominikanerinnen Ende der 1960er-Jahre auf einer sonnigen Terrasse hoch über der Stadt ein neues Mutterhaus bauen, das in kraftvollem Modernismus die optimistische Stimmung der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) reflektiert.

Geplant für über 200 Schwestern, enthält der gewaltige Komplex alles, was eine weitgehend autark funktionierende Gemeinschaft zum Leben, Arbeiten und Beten benötigt. Die architektonische Herausforderung bestand darin, ein Gebäude mit so umfangreichem Raumprogramm an exponierter Lage einzufügen, ohne den feinen Massstab der Landschaft zu übertönen. Der direkt beauftragte Zürcher Architekt Walter Moser (*1931) meisterte das Problem mittels einer kubischen Auflösung der monumentalen Baumasse. Der mehrgeschossige Klausurtrakt umschliesst u-förmig einen zum Tal hin offenen Hof, der die Bergwelt als Meditationsraum mit einbezieht. Die einzelnen Zellen werden aus einem regelmässigen Stützenraster aus Beton gewonnen – in brutalistischer Art roh und sichtbar belassen zur Betonung der Konstruktion. An der Geländekante situiert, tritt die Kirche als voller Kubus mit weiss verputzten Fronten dominant aus dem Hang hervor; die beiden grosszügig verglasten Geschosse darunter mit Refektorium und Aula steigern die Idee des in die Höhe gehobenen Gefässes. 1975 wurde der Komplex gegen Osten durch eine Internatsschule erweitert und die Kirche so ins Zentrum der weitläufigen Anlage «gerückt».

Im Kontrast zwischen den filigran aufgelösten Zellentrakten und der kompakten Kirchenfassade mit der keck aufragenden Glockenstube zeigt sich der Einfluss von Le Corbusiers Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) als dem Leitbau der Zeit. Die plastische Durchbildung der Kirchenmauern mit schachtartigen, frei angeordneten und farbig verglasten Fenstern wiederum ist deutlich von Le Corbusiers spektakulärer Kapelle von Ronchamp (1955) inspiriert.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Das neue Mutterhaus der Dominikanerinnen in Ilanz [Baureportage], Beilage zum Bündner Tagblatt vom 26.3.1970; Werner Catrina: Ein neues Haus für einen alten Orden, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 164, 8.4.1973, S. 55-57; Sr. Raphaela Gasser: Die Fenster in der Klosterkirche der Dominikanerinnen von Ilanz, Ilanz 1973; Fabrizio Brentini: Bauen für die Kirche. Katholischer Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in der Schweiz, Luzern 1994, S. 209; Schweizer Architekturführer 1920–1990, Bd. 1 (Nordost- und Zentralschweiz), Zürich 1992, Nr. 317, S. 84.

04 — Centro Parrocchiale, Poschiavo

  • Fassade zum Platz, Ansicht von Norden (© Ralph Feiner, Malans).

  • Das Atrium im Zentrum der Anlage (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Pfarreizentrum Adresse Via da Mez 59, 7742 Poschiavo Bauherrschaft Katholische Kirchgemeinde Poschiavo Planer Prospero Gianoli, Livio Vacchini Bauzeit 1983–1985

Statt ihr neues Begegnungszentrum auf der grünen Wiese fernab des Dorfzentrums zu errichten, entschloss sich die katholische Kirchgemeinde von Poschiavo Anfang der 1980er-Jahre, das ambitiöse Bauvorhaben in einem bescheidenen Wohnhaus inmitten des Borgo zu realisieren. So galt es, an städtebaulich sensibler Lage direkt neben dem barocken Oratorio Sant’Anna an einem intimen Platz südseits der spätgotischen Stiftskirche eine neuartige Nutzung zu implementieren, ohne das historische Gefüge zu (zer-)stören. Zur Lösung dieser heiklen Aufgabe setzte die Bauherrschaft auf einen Wettbewerb unter Beizug hochkarätiger Fachkräfte. Die von Luigi Snozzi (* 1932) präsidierte Jury kürte das Projekt von Livio Vacchini (1933–2007), wie Snozzi selbst ein prominenter Vertreter der Tessiner «Tendenza» mit besonderem Fokus auf eine ortsbezogene Architektur, zum Sieger. Die Ausführung vertraute Vacchini einem Einheimischen, dem zweitrangierten Prospero Gianoli (*1945), an.

Zur Wahrung der Kontinuität blieb der Wohnhaus-Charakter des Altbaus gewahrt. Die Aussenmauern des ansonsten vollständig ausgekernten Gebäudes sind mit einem neuen «Kleid» umhüllt, das die Fassadenprinzipien der Puschlaver Palazzi in verhalten postmoderner Art reflektiert: die Reverenz äussert sich im klassisch-zentralsymmetrischen Aufbau der für die Platzwirkung bedeutsamen Hauptfront und deren dezenten Ornamentierung, die sich auf die häufig reiche Dekoration der älteren Gebäude im Ortskern bezieht. Die Freitreppe ist ein subtiler Verweis auf die öffentliche Funktion, deren Abbildung sich ansonsten ganz auf das Innere des Hauses konzentriert: Im Zentrum steht, als eigentliches Herz der Anlage, ein grosszügiges Foyer in Form eines zweigeschossigen Atriums, das alle übrigen Räume um sich gruppiert. Der rationalistischen Strenge des geschlossenen Innenhofs setzt das organisch geformte Treppenhaus, das auch den grossen Saal im Untergeschoss erschliesst, eine verspielte Note entgegen.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Peter Disch: Architektur in der Deutschen Schweiz 1980–1990, Lugano 1991, S. 267; Ludmila Seifert-Uherkovich: Architekturrundgang Poschiavo Borgo (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. Vom Bündner Heimatschutz, Chur 2003, Nr. 13.

03 — Gewerbliche Berufsschule, Chur

  • Zentrale Halle mit monumentaler Treppe; um diesen quadratischen Kern gruppieren sich die Schulräume (© Ralph Feiner, Malans).

  • Pausenplatz und Haupteingang, Ansicht von Nordosten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Historische Ansicht von Westen (© Reto Reinhardt, StAGR XXI d D 75).

  • Historische Aufnahme der zentralen Halle mit den Treppenläufen (© Reto Reinhardt StAGR XXI d D 75).

  • Blick von der Treppenhalle in die Aufenthaltsräume des Hauptbaus, historische Aufnahme (Reto Reinhardt, StAGR XXI d D 75).

  • Blick in ein Schulzimer, historische Aufnahme (© Reto Reinhardt, StAGR XXI d D 75).

Bauaufgabe Schulhaus Adresse Scalettastrasse 33, 7000 Chur Bauherrschaft Stadt Chur Planer Andres Liesch Bauzeit 1967–1969

Andres Liesch (1927–1990) gehört zu jener Generation von Architekten, die dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit in Graubünden mit ambitionierten Bauten im Geiste der klassischen Moderne ein architektonisches Gesicht gaben (Objekt 40). Im umfangreichen Oeuvre Lieschs, der von Zürich aus (mit einer Churer Filiale) im Bergkanton eine zeitgemässe Infrastruktur mit aufzubauen half, spielen Bildungsinstitutionen eine Hauptrolle. Fast 40 Schulhäuser konnte Liesch im Laufe seiner Karriere errichten, die meisten davon in seiner Bündner Heimat. Das aus einem Projektwettbewerb hervorgegangene Gewerbeschulhaus in Chur gehört zu den frühen und gleichsam wichtigsten Grossgebäuden des Architekten.

Zu konzipieren war ein Gebäude für 2500 Schüler aller gewerblichen Lehrberufe. Über eine stark konzentrierte Anlage mit kompakter Volumetrie hielt Liesch die Baukosten gering, durch die differenzierte Gliederung und Staffelung der gewaltigen Baumasse milderte er den enormen Massstabssprung gegenüber der umliegenden Bebauung im bahnhofsnahen Wohnquartier.

Das Schulhaus hebt sich durch einen grosszügig verglasten Sockelbau vom Strassenniveau ab. Eine monumentale Freitreppe führt zum gestuften Eingangs- und Pausenhof, um den sich winkelförmig der viergeschossige Hauptbau mit den Büro- und Schulzimmern und der eingeschossige Nebenbau mit Aula und Kantine gruppieren. Der von der Schalung geprägte Sichtbeton bestimmt den Gesamteindruck des Baus, der das stark tektonische Denken des Entwerfers betont. Durch sichtbares Fügen und Schichten werden die charakteristischen Eigenschaften von Tragen und Lasten offenbart. Die Tragstruktur – ein Skelettbau in Eisenbeton – ist an den Pfeilern und Unterzügen innen wie aussen überall ablesbar und deutlich von den nichttragenden Elementen unterschieden: Die Platten aus vorfabriziertem Beton, die den Fassaden vorgehängt sind, finden ihre Entsprechung in den Wänden aus naturbelassenem Eichenholz, Glas und Sichtbackstein im Inneren des gewaltigen Baus.

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Das neue Gewerbeschulhaus der Stadt Chur, in: Schweizerische Bauzeitung, 89 (1971), Heft 45, S. 1135–1139; Michael Hanak: Skulpturale Nachkriegsmoderne in Chur, in: Bündner Monatsblatt, 1/2013, S. 65–98; Leza Dosch: Nachkriegsmoderne in Chur (Architekturrundgänge in Graubünden), hrsg. vom Bündner Heimatschutz, Chur 2013, Nr. 14; Daniel Walser: «Substanz gewinnen […].» Andres Liesch (1927–1990), Architekt, in: Bündner Monatsblatt, 1/2019, S. 178–199.

02 — Punt da Nalps, Val Nalps

  • Blick von Südwesten (© Ralph Feiner, Malans).

  • Blick von unten, talauswärts (© Ralph Feiner, Malans).

  • Während des Baus im Sommer 1957. Das Lehrgerüst erstellte im Freivorbau der Gerüstbauer Richard Coray jun.(© SBZ, 76 (1958), Heft 24, S. 359).

  • Ausgerüstete Brücke im September 1957, noch ohne Geländer (© SBZ, 76 (1958), Heft 24, S. 359).

Bauaufgabe Brücke Adresse Via Nalps, 7188 Sedrun-Tujetsch Bauherrschaft Kraftwerke Vorderrhein AG Planer Emil Schubiger Bauzeit 1957

Die einspurige Strassenbrücke über den Nalpser Rhein, die an entlegenem Ort in einem Seitental südlich von Sedrun ein 50 m weites und 30 m tiefes Tobel überspannt, gehört zu den radikalsten Brücken Graubündens: ein vierbeiniges Sprengwerk mit zweiteiligen, gespreizten Streben aus sichtbar belassenem Beton. Hauptmerkmal des Entwurfs ist die klare Formensprache in extremer Reduktion.
Die vordergründig so einfache Konstruktion resultiert aus einer subtilen Gestaltung, die mit den Grenzen der Wahrnehmung spielt. Die Stärke der Fahrbahnplatte nimmt vom Widerlager zum Anschlusspunkt der Schrägstützen hin zu, um sich gegen die Mitte um wenige Zentimeter kaum merklich und doch spürbar wieder zu verjüngen; die Stirnflächen von Schrägstützen und Tragwerk liegen in einer Ebene, was den monolithischen Eindruck der Brücke «aus einem Guss» betont. In der Hochgebirgslandschaft setzt die elegante Kunstbaute mit ihrer präzis formulierten Geometrie einen selbstbewussten Kontrapunkt zur amorphen Natur.
Entstanden in Zusammenhang mit dem Bau der Vorderrhein-Kraftwerke, dient das prägnante Bauwerk der Zufahrt zur Staumauer in der Val Nalps. Meisterhaft führte der Zürcher Ingenieur Emil Schubiger (1903–1992) hier das Potential der noch jungen Spannbetontechnik vor. Sie ermöglichte die geringen Abmessungen der Konstruktionsteile, denen die Brücke ihre scheinbare Leichtigkeit verdankt. In einem Submissionswettbewerb hatte sich Schubiger mit seinem Vorschlag einer äusserst schlanken Sprengwerksbrücke gegen herkömmlichere Bogenlösungen durchgesetzt; seine Verbindung von höchster Wirtschaftlichkeit und formaler Eleganz überzeugte. Der Ingenieur sollte später den kompromisslosen Minimalismus des Baus mit einer zeitgemässen «neuen Brückenästhetik» rechtfertigen: «Der Schönheitsbegriff in der Baukunst ändert sich im Laufe der Zeit. Früher verpönte Attribute wie spröde, nackt, abstrakt entsprechen neuzeitlichem Geschmack.»

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur Landschaft und Kunstbauten. Ein persönliches Inventar von Jürg Conzett, Zürich 2012 (2., korr. Aufl.), S. 164/165; Jürg Conzett: Ästhetik der Reduktion, in: Terra Grischuna, 49, 1990, Nr. 6, S. 37–38; Emil Schubiger: Zwei vorgespannte Sprengwerkbrücken, in: Schweizerische Bauzeitung, 76 (1958), Heft 24, S. 355–359; Emil Schubiger: Vorgespannte Brücken und Landschaft, in: Das Werk, 1957, Bd. 44, S. 49–53.

01 — Ensemble Zumthor, Haldenstein

  • «Atelier Zumthor» von 1986, Ostfront (© Ralph Feiner, Malans).

  • «Atelier Zumthor» von 1986, Gartenfront (© Ralph Feiner, Malans).

  • «Atelier Zumthor» von 1986, Blick vom Gartensaal nach aussen (© Ralph Feiner, Malans).

  • Haus Dierauer (Palu 7), der erste freistehende Neubau von Peter Zumthor aus den Jahren 1975/76 (© Ralph Feiner, Malans).

  • Haus Räth (Palu 18) aus den Jahren 1981–1983 (© Ralph Feiner, Malans).

Bauaufgabe Wohnhaus und Atelier Adresse Quartier Süesswinggel, 7023 Haldenstein Bauherrschaft Verschiedene Planer Atelier Peter Zumthor Bauzeit ab 1972

«Süesswinggel» heisst das Quartier im historischen Kern von Haldenstein, das der heute weltberühmte Architekt Peter Zumthor (*1943) 1972 zu seiner Wohn- und Arbeitsstätte wählte. 1986 errichtete er hier jenen Bau, mit dem sein offizielles Oeuvre beginnt: das «Atelier Zumthor» (Süesswinggel 20). Es wurde zur Keimzelle eines kleinen Architekturcampus, der heute drei Gebäude umfasst (Nr. 28, 2005; Nr. 17, 2016); jedes auf seine spezifische Art ein Meisterstück zum Thema «neues Bauen in altem Bestand».
Das erste Atelier ist eine aus dem Ort heraus entwickelte Mischung aus Büro- und Gartenhaus mit unterirdischen Archivräumen, einem ebenerdigen Gartensaal und dem Zeichnungssaal im Obergeschoss – ein «Nebengebäude», wie die bäuerlichen Ökonomiebauten im Dorf, auf die es sich mit seiner hölzernen Materialisierung bezieht. Die der Ständerkonstruktion vorgehängte Fassade aus Lärchenholzstäben fasst den schlichten Baukörper zusammen und verfeinert ihn in der Art eines Möbels. Erscheinen drei Seiten des Bauwerks hermetisch geschlossen, öffnet sich die Südfront als Glaswand zu einem geometrisch geordneten, von japanischen Kirschbäumen bestandenen winzigen Park; eine den Fenstern vorgelagerte Holzkonstruktion für die Sonnenstoren thematisiert den Übergang von innen nach aussen als räumliche Schichtung.
In seiner formalen Askese, seiner handwerklichen Präzision, seiner sinnlichen Präsenz und der Selbstverständlichkeit, mit der es in die gewachsene Umgebung eingewoben ist, zeigte das Atelier einen Ausweg aus dem rustikalen «Alpenstil», der das Baugeschehen der Zeit dominierte. Das raffinierte objet trouvé aus Holz wurde zum Leitbau einer neuen, zeitgenössischen Bündner Architektur.
Zumthors erster «eigenständiger» Bau markiert das Ende von dessen langer Suche nach einem persönlichen architektonischen Ausdruck, die sich im «Süesswinggel» mit seiner einmaligen Dichte an Zumthor-Bauten exemplarisch nachvollziehen lässt (Süesswinggel 19 und 25, Palu 7 und 18).

Text Ludmila Seifert, Chur
Literatur P.Z., E.H., P.F.: Eine Anschauung der Dinge, in: Werk, Bauen + Wohnen, 10/1987, S. 34 – 43; informationen 1/88 (Sonderheft: Auszeichnung guter Bauten im Kanton Graubünden), hrsg. von der Bündner Vereinigung für Raumplanung, Chur 1988; Thomas Disch (Hrsg.): Peter Zumthor. Bauten und Projekte, 5 Bde., Zürich 2014, Bd. 1, S. 15–33.